Endlich. Altersarmut in Darmstadt ist Thema in der Stadtverordnetenversammlung

Aufschlussreiche Diskussion nach einer großen Anfrage der Linken

Die Stadtverordneten der Linken machten mit einer großen Anfrage zur Altersarmut in Darmstadt den Aufschlag und setzten das Thema auf die Tagesordnung der Stadtverordnetenversammlung. In einer schriftlichen Antwort von Bürgermeisterin Akdeniz wird ausführlich auf die Fragen eingegangen und auch das Darmstädter Echo titelte über die Diskussion mit „In Sorge wegen Altersarmut“.

Zu den Fakten:

  • Die Zahl der Rentner*innen in Darmstadt, die Grundsicherung im Alter beantragen, ist von 1.908 im Jahr 2015 auf 2.283 im Jahr 2020 angestiegen - eine Steigerung um 19,7% in  5 Jahren.
  • Laut der ZDF-Deutschlandstudie liegt Darmstadt unter den 401 erfassten Städten und Landkreisen in Bezug auf Altersarmut auf dem Rang 384, also auf dem 17. letzten Platz.
  • Die Unterschiede in Darmstadt selbst sind eklatant: in der Kirchtannensiedlung in Eberstadts Süden beträgt der Anteil der Empfänger*innen von Grundsicherung 18 %, im angrenzenden Bezirk ‚Am Frankenstein‘ nur 0,7 %.
  • Die Überschuldung im Alter nimmt zu. Im Jahr 2007 waren 6,2% der Hilfesuchenden der Schuldnerberatung 65 Jahre und älter. 2020 waren es 10,1 %.
  • Insgesamt wird der ÖPNV von älteren Menschen nach Angaben der Stadt nicht regelmäßig in Anspruch genommen. Grund sind nach Einschätzung der Linksfraktion vor allem die hohen Fahrpreise.
  • Die Teilhabecard, die Vergünstigungen im sozialen und kulturellen Bereich ermöglichen soll,  wird nach Auskunft der Stadt  nur von 10% der berechtigten Rentner*innen beantragt.
  • Im Jahr 2020 beantragten 302 Haushalten von Menschen über 65 Jahren Wohngeld. Die Wohngeldzahlungen betrugen im Schnitt 134 €.
  • In 34 Haushalten mit Ü65-Jährigen wurde der Strom gesperrt.

Die Möglichkeiten der Stadt Darmstadt die Altersarmut zu bekämpfen sind natürlich begrenzt. Von entscheidender Bedeutung ist die gezielte Weiterentwicklung der Quartiersarbeit bzw. der Gemeinwesenarbeit. Unter Quartiersarbeit wird eine soziale Arbeit verstanden, die mit einem ganzheitlichen Verständnis die Themen wie z. B. Hilfen zur Erziehung und Kinderbetreuung, Pflegeberatung und praktische Wegweiser umfasst. Dazu braucht es genügend geeignete Räumlichkeiten und eine Ausstattung mit ausreichendem und qualifiziertem Personal. Quartiersarbeit hat zur Aufgabe die Vernetzung der örtlichen Akteure zu fördern und die Beteiligungsmöglichkeiten der Bewohner*innen zu fördern, was zu einer höheren Identifikation mit ihrem Quartier und einer Verbesserung der unmittelbaren Lebensumwelt führen soll. Solche Projekte laufen zur Zeit in Kranichstein, in Eberstadts Süden und im Pallaswiesen-/Mornewegviertel, die jedoch bereits unterschiedlich lange laufen und ungleich ausgestattet sind.

Es gibt in Darmstadt durchaus Ansätze, um die Auswirkungen der Armut in Stadtvierteln mit sozial benachteiligten Bewohner*innen abzumildern, doch über die gesamte Stadt gesehen, gibt es hier noch großen Nachholbedarf.

Altersarmut ist Ergebnis des vorherigen Erwerbslebens: Unterbezahlung, befristete Arbeitsverträge und Arbeitslosigkeit. Insbesondere bei Frauen kommt erwerbsmindernd die Aufgabe der Kindererziehung und der Betreuung von zu pflegenden Angehörigen dazu. Dem scheint die Wissenschaftsstadt Darmstadt in ihrer Stadtwirtschaftsstrategie 2025 Rechnung zu tragen:

„Die Wissenschaftsstadt nimmt ihre soziale Verantwortung im Stadtkonzern wahr. Die Unternehmen der Stadtwirtschaft sind verantwortungsvolle Arbeitgeber. Hierzu gehören wettbewerbsfähige Löhne und Gehälter, Vermeidung betriebsbedingter Kündigungen und die Minimierung von Leiharbeitsverhältnissen. Wettbewerbsfähige Löhne und Gehälter gehen mit tarifvertraglichen Regelungen einher. Tarifflucht ist nicht zulässig. Auf sachgrundlose Befristungen wird nach Möglichkeit verzichtet.“

Aber auf der Stadtverordnetenversammlung  am 11.11.2021 war die andere, häßliche Seite der Verantwortlichen der Stadt zu sehen und zu hören.

Altersarmut durch Beschäftigung bei städtischen Gesellschaften!

Ver.di-Kolleg*innen der SSG (Starkenburg Servicegesellschaft am Klinikum) führten vor der Stadtverordnetenversammlung eine Mahnwache durch und wiesen in einem Flugblatt auf ihre untertariflich Bezahlung hin. „Es gibt in der SSG am Klinikum und auch in anderen städtischen Gesellschaften keinen Tarifvertrag, die KollegInnen werden mit dem (Reiniger-)Mindestlohn (aktuell 11,11 €) abgespeist. Auch besteht in der SSG eine sehr hohe Befristungsquote, d.h. viele unsichere Arbeitsplätze, ohne Schutz und ohne längerfristig absehbare Perspektive. Also Arbeitsbedingungen, die der o.g. Darstellung der Stadt diametral entgegenstehen. Das ist prekäre und unterbezahlte Beschäftigung! Es sollte klar sein: Mit einer Vergütung nach Mindestlohn erreichen die Beschäftigten keine ausreichende Rente. Selbst bei einem Mindestlohn von 12 € /Stunde und 45 Jahren Dauer-Vollzeitbeschäftigung ergibt sich nur eine Rente von rund 860 € ! Die Stadt produziert mit ihren Gesellschaften durch Tarifflucht und Massenbefristung selbst die zukünftige Altersarmut!“ In der SSG arbeiten ca. 300 Beschäftigte in den Bereichen wie  Gebäudereinigung, hauswirtschaftliche Dienste, Zustellung der Speisen.

Stadtkämmerer Schellenberg sah sich in seiner Rede am 11.11.2021 genötigt auf diesen Protest einzugehen und verteidigte die untertarifliche Bezahlung. „Wir geben den Menschen Arbeit, die sonst keine Chancen auf Arbeitsplätze haben“ und „sie sollten doch Vorschläge machen, wo wir das Geld einsparen sollen“, da das Klinikum defizitär sei. Und es störe ihn unheimlich, dass dieses Thema wiederholt in der Stadtverordnetenversammlung behandelt werde und vor allen Dingen die „Gebabbelei“ mit der Kritik an der sachgrundlosen Befristung.  Bereits in der letzten Stadtverordnetenversammlung erklärte Schellenberg – unwidersprochen von Oberbürgermeister Partsch: „Festlegungen in der Stadtwirtschaftsstrategie müssen atmen können,“ und verbreitete dazu offensichtliche Unwahrheiten, dass es bei der SSG - genauso wie dem EAD - eine Analphabetenquote von 10% gebe. Dies sei der Grund, weshalb  eine Probezeit von einem halben Jahr nicht ausreiche und Befristungen mit bis zu 2 Jahren abgeschlossen werden.

Zum Schluss: was nutzt die beste Quartiersarbeit, wenn die Stadt den privaten Firmen mit schlechten Beispiel vorangeht und selbst Lohndumping und prekäre Arbeitsverhältnisse fördert? Was nutzen die schönsten Erklärungen zur Stadtwirtschaftsstrategie und zum „Tag der Reinigungskräfte“, wenn dem die Praxis diametral entgegensteht? Wer wundert sich da noch über die so oft bedauerte Politikerverdrossenheit?

 

EAD INFORMIERT ANLÄSSLICH DES TAGS DER REINIGUNGSKRÄFTE AM 8. NOVEMBER

Freitag, 05.11.2021

Stadtkämmerer Schellenberg: „Gerade in der Pandemie, in der die Reinigungsleistung auch für den Gesundheitsschutz der Bevölkerung noch einmal an Bedeutung gewonnen hat, zeigt sich, wie wertvoll der tägliche Einsatz der Kolleginnen und Kollegen beim EAD ist.“

 

 

Erhard Schleitzer
14.11.2021