Postsiedlung in Bessungen

Der Bauverein reißt preiswerte Wohnungen ab und baut ein paar Sozialwohnungen

Für die Postsiedlung in Bessungen hat der Bauverein für die Häuser in der Moltke-/Bingerstraße eine neue Planung vorgelegt. Im Frühjahr nächsten Jahres sollen fünf alte Wohnhäuser, erbaut Anfang der fünfziger Jahre, mit etwa 80 Wohnungen abgerissen werden. Die Wohnfläche wird „verdichtet“ und es sollen an dieser Stelle 120 Drei- und Vier-Zimmer-Wohnungen erbaut werden. Der große Haken bei dieser Planung: in den bisherigen Wohnungen zahlten die Bauverein-Mieter  etwa 7€ pro qm. Von den neuen Wohnungen werden nur 20 % als Sozialwohnungen und weitere 15 % für Mieter mit mittlerem Einkommen vorgesehen sein. Die restlichen 65 % werden auf jeden Fall deutlich teurer vermietet als bisher. Als Ergebnis werden viele MieterInnen mit unterem und mittlerem Einkommen aus diesem Wohngebiet verdrängt werden.

Von der Wohnungspolitik zur Wohnungsmarktpolitik

Die Kommunen und die Bundesländer bekamen 2006 vom Bund die Verantwortung für den sozialen Wohnungsbau übertragen. Bis 2019 erhalten sie dafür vom Bund noch übergangsweise Kompensationszahlungen. In der Zeit von 2006 bis 2016 ist die Zahl der Sozialwohnungen bundesweit von 2,07 Millionen auf 1,24 Millionen gesunken. „Die Gründe für diese Entwicklung: der soziale Wohnungsbau in Deutschland wird von Unternehmen der Immobilienwirtschaft größtenteils als unattraktiv wahrgenommen. Die im Vergleich zum frei finanzierten Wohnungsbau geringere Rendite, Mietpreisbindungen und eine abschreckende Wirkung des sozial schwachen Mieterklientels lassen viele Investoren zögern, in den sozialen Wohnungsbau zu investieren.“ (Matthias Janson in statista, 10.1.2018).

Diese Entwicklung wurde 1988 durch steuerpolitische Maßnahmen eingeleitet, indem die steuerrechtliche Bevorzugung der gemeinnützigen Wohnungsunternehmen aufgehoben wurde. Statt sozialen Wohnungsbau zu fördern, wurde der Weg beschritten, individuelle Leistungen wie Wohngeld und Wohnkostenerstattung zu gewähren. Als Folge wurden die Altbauten in den Innenstädten durch Sanierungen aufgewertet, gehobene Einkommensgruppen für diese Wohnungen angezogen und untere und auch mittlere Einkommensgruppen aus den ehemals preiswerten Wohnungen gedrängt. Die Bodenpreise stiegen an, weil die Immobilienwirtschaft immer höhere Profite erwartete.

In den Jahren 2010 bis 2014 sind die Investitionen in den Wohnungsneubau von 32,9 Milliarden Euro auf 53,03 Milliarden Euro im Jahr 2014 angestiegen. Doch die Investitionen flossen überwiegend in den Bau von hochpreisigen Wohnungen, da diese in der Herstellung nicht viel teurer sind als einfacher Wohnraum, mit ihnen aber ein viel höherer Gewinn zu erzielen ist. So sind die Grundstückspreise besonders in den Groß- und Universitätsstädten in den vergangenen Jahren in die Höhe geklettert.

Je mehr Geld ein bebautes Grundstück zukünftig abzuwerfen verspricht, umso höher ist sein Preis. „Die teuren Grundstücke sind also nicht so sehr ein Grund dafür, dass derzeit nur teurere Wohnraum gebaut wird – wie dies die Immobilienbranche stets betont –, sondern vielmehr eine Folge eben jenes Baus von und Umbaus zu Luxuswohnungen. Bezahlbaren Wohnraum zu schaffen ist nur möglich, wenn derartige Steigerungen der Grundrente (inklusive der Spekulation hierauf) verhindert werden, und damit nur gegen die Interessen jener, die von ihr profitieren. Es liegt also am politischen Willen bzw. an den Kräfteverhältnissen, eine entsprechende Planung zu betreiben und den Bodenmarkt adäquat zu regulieren.“ (Bernd Belina Wohnungsbauboom und globale Kapitalverhältnisse)

Welche Rolle spielt heute die Bauverein AG in Darmstadt?

Der ehemalige „Bauverein für Arbeiterwohnungen“ hat sich 1990 in die „Bauverein AG“ umbenannt. Seitdem ändert er kontinuierlich aber zielstrebig seine Wohnungspolitik und gleicht sich immer mehr an die Vorstellungen der Immobilienwirtschaft an, die Wohnungsbau nur zur Profiterzielung betreibt. Zwar heißt es noch in dem Beteiligungsbericht der Stadt Darmstadt zum Unternehmenszweck des Bauvereins, „Gegenstand der Gesellschaft ist vorrangig die Wohnungsversorgung breiter Schichten der Bevölkerung“, doch davon ist bei den aktuellen Projekten immer weniger zu erkennen (s. auch den Artikel "Modernisierungen im Spessartring/Rhönring“ in siehsmaso vom 27.8.18). Natürlich gelten in der Immobilienwirtschaft neben der Spekulation die Interessen der Wertsteigerung der eigenen Immobilien, doch der Bauverein sollte als Teil der Stadtwirtschaft den Prinzipien einer kommunalen Daseinsvorsorge verpflichtet sein . Wohlwollend formuliert, kann man zu dem Verhältnis der Bauverein AG zu den Wohnungsbaukonzernen Göthes Spruch anführen: „halb zog sie ihn, halb sank er hin“. 

Die Stadt Darmstadt hat Gestaltungsmöglichkeiten

Die Stadtverordnetenversammlung Darmstadt beschloss nach langen und kontroversen Diskussionen im letzten Jahr, dass private Wohnungsbauträger bei neuen Bauvorhaben einen Anteil von 25 % Sozialwohnungen und 20 % im Förderprogramm für mittlere Einkommen vorsehen müssen. Bei den Neubauten in der Postsiedlung in Bessungen sieht der Bauverein insgesamt nur einen Anteil von 35 % im unteren und mittleren Preissegment vor. Dass eine städtische Wohnungsbaugesellschaft die Beschlüsse der Stadtverordnetenversammlung für private Bauunternehmen unterläuft, ist ein handfester sozialpolitischer Skandal. 

Folgerichtig fordert die Partei „Die Linke“ in einer Presseerklärung, dass auf dem Areal der abgerissenen Wohnungen mindestens zu drei Vierteln geförderter Wohnraum gebaut wird. Die Stadt Darmstadt hat es mit ihren Wirtschaftsbetrieben wie dem Bauverein in der Hand, eine neue Wohnungspolitik zu gestalten. Sie muss hier soziale Verantwortung gegenüber ihren BürgerInnen übernehmen und die Entwicklung Darmstadts hin zu einer sozialen Stadt mit guten Lebens- und Wohnbedingungen vorantreiben. 

Erhard Schleitzer
18.09.2018