Die Kirchbergmorde in Bensheim am 25. März 1945

Redebeitrag von Christoph Jetter

Drei Tage vor der Befreiung durch die amerikanischen Truppen, am 24. März 1945, wurden zwöllf Häftlinge durch die Gestapo in Bensheim ermordet: Lina Bechstein, Rosa Bertram, Lothaire Delaunay, Eugene Dumas, Jakob Gramlich, Walter Hangen, Frederik Roolker, Erich Salomon und drei weitere unbekannte Gefangene wurden am Kirchberg durch Genickschüsse hingerichtet. Gretel Maraldo wurde auf dem Weg der Hinrichtung erschossen. Die Gefangenen mussten vom Amtsgericht Bensheim aus etwa drei Kilometer zur Hinrichtungstätte im Wald marschieren, wo heute ein Gedenkstein an die Morde erinnert. Dies war kein Einzelfall. Vielfach wurden Gefangene kurz vor ihrer Befreiung ermordet, um Zeugen der Naziverbrechen auszuschalten. Im folgenden dokumentieren wir eine Rede von Christoph Jetter, die er am 28.3.2015 auf einer Gedenkveranstaltung der VVN/BdA (Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes/ Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten) in Bensheim hielt. In seiner Rede wirft er am Beispiel der Diskussion über Reparationszahlungen an Griechenland auch die Frage auf, was wir "Nachgeborenen" aus der Geschichte gelernt haben.

Die  Broschüre "3 Tage fehlten zur Freiheit" (Fritz Kilthau / Peter Krämer, Geschichtswerkstatt Jakob Kindinger, Bensheim 2008) erzählt die Geschichte der Opfer und des Verbrechens.

Verehrte Anwesende,

ich komme aus Darmstadt. Dort war die für Südhessen zuständigen Gestapo stationiert, bis sie nach dem Luftangriff im September 1944 nach Bensheim verlegt wurde. An die unfassbaren Mordtaten dieser Killertruppe wenige Tage vor der Befreiung im März 1945, vor allem an deren Opfer erinnern wir heute.

Die Geschichte der Gestapo Darmstadt hat im März 1933 mit dem Machtantritt der Nazis in Hessen ihren Anfang genommen. Es ist die Geschichte ungezählter, kaum je gesühnter Verbrechen, begangen an jenen, die sich dem Faschismus entgegengestellt haben oder die von den Nazis zu „Volksfeinden“ erklärt worden sind:

Freiheitsberaubung, Willkür, Bespitzelung, Zwangsarbeit, Deportationen in die Vernichtungslager – am Ende dann kaltblütiger Mord hier in Bensheim, vor der Haustür, am Kirchberg.

Sitz der Darmstädter Gestapo war ein Gebäude in der heutigen Wilhelm-Glässing-Straße, genau gegenüber der 1988 neu errichteten Synagoge. An dem nach dem Zweiten Weltkrieg an gleicher Stelle errichteten Wohngebäude ist eine kleine Tafel angebracht. Bis vor einigen Jahren war dort zu lesen: „Darmstädter Geschichtsrundgang 1933-1945“ (gemeint waren die Jahre der Naziherrschaft), allerdings  ohne ein Wort der Erläuterung dazu, dass an dieser Stelle die Gestapo residiert hatte. Die neuen Eigentümer des Gebäudes hatten vor 20 Jahren die Inschrift eines Erläuterungstextes auf der Tafel abgelehnt – es könnte ja ein dunkler Schatten aus der braunen Vergangenen auf das Haus fallen.

Inzwischen hat die Witterung den ohne Erläuterung sowieso sinnlosen Text entsorgt. Die Tafel, die an die Darmstädter  Gestapo und deren Untaten erinnern sollte, blieb  jedoch. Sie hängt heute noch dort, allerdings ohne jedes Schriftzeichen und völlig leer – ein kleiner, aber bezeichnender blinder Fleck in der öffentlichen  Geschichtsschreibung Darmstadts.

Von der Gestapo in Darmstadt, die für die letzten 6 Monate des tausendjährigen Reiches nach Bensheim verlegt wurde, verblieb eine kleine Außenstelle im Eugen-Bracht-Weg auf der Darmstädter Mathildenhöhe, 200 Meter entfernt von der Jugendstil-Krone mit dem Fünf-Finger-Turm. Das schön restaurierte Gebäude ist heute Sitz einer vornehmen Design-Stiftung. Studenten sind vor kurzem der unrühmlichen Gestapo-Geschichte des Hauses, die allenfalls Spezialhistorikern bekannt ist, auf die Spur gekommen. Am Gebäude selbst oder davor, geschweige denn in seinem Inneren, findet sich kein noch so kleiner Hinweis, keine Spur.

Weshalb erzähle ich eine Darmstädter Geschichte heute und hier in Bensheim? Weil blinde Flecken in unserer Geschichtsschreibung und in unserem Geschichtsbewusstsein viel besagen:

Zum Beispiel,

dass wir uns in Deutschland bis auf den heutigen Tag – die kleinen Beispiele aus Darmstadt zeigen es - allzu oft weigern, Orte, Opfer und Täter der nazideutschen Verfolgungs- und  Kriegsverbrechen beim Namen zu nennen, und zwar öffentlich. Deshalb ist es gut und vorbildlich, dass Bensheim sich erinnert - nicht erst seit heute: hier am Kirchberg, auch drüben an der Bergkapelle, wo die zu Tode geschundenen Zwangsarbeiter aus Griechenland bestattet sind. Wir ehren die Opfer der  Schandtaten erst dann wirklich, wenn wir ihre Namen aussprechen, sichtbar machen und – soweit wir  etwas in Erfahrung bringen –  von ihrem zerstörten Leben erzählen.

Zu den blinden Flecken unseres Geschichtsbildes gehört auch das Verschweigen der Ursachen, die zum Schreckensregime des Nazismus in Deutschland und zu einem von der deutschen Kriegsmaschine und von deutscher Besatzung verwüsteten Europa geführt haben, auch zu dem Erbe, die diese Schreckensherrschaft uns hinterlassen hat.

„ … so etwas hätt’ einmal fast die Welt regiert!“, schrieb Bertolt Brecht, der hinzufügte:  „ … jedoch die Völker wurden seiner Herr…“ -  nicht etwa wir, die Deutschen, haben dies geschafft, die Anti-Hitler-Koaltion hat uns vom Faschismus befreit. Es waren amerikanische Truppen, die wenige Tage danach an die Bergstraße kamen – als Befreier.

Wir, die Deutschen, genauer: die Generationen unserer Eltern, Großeltern, ja Urgroßeltern haben den deutschen Faschismus mit Zustimmung und mit Terror an die Macht gebracht, an die Macht kommen lassen und noch die letzte, feige und fanatische Mordtat einer Gestapo oder eines der Standgerichte in den Tagen des Untergangs im Frühjahr 1945 trägt den Stempel dieser gerade ein paar Jahre zurückliegenden Zustimmung, des Mitläufer- und Denunziantentums, der Mittäterschaft und am Ende der Ohnmacht des Geschehenlassens. Ging das den damaligen Bensheimern, die bemerkt oder gar beobachtet haben, was an jenem 24. März 1945 geschah, wenigstens ahnungsweise durch den Kopf?

Haben wir, die Nachgeborenen, die diese Erblast des Faschismus zu tragen haben (ob wir wollen oder nicht!) -  haben wir aus der Geschichte gelernt, die zu unserem Glück im Scheitern des Versuchs geendet hat, unsere Nachbarländer von Spitzbergen bis Sizilien und Kreta zu unterwerfen, ihre Bewohner zu Sklaven zu machen, ihre Länder auszubeuten und zu verwüsten?

In mancher Hinsicht haben wir sicher gelernt – oft genug und in zentralen Punkten aber nur mit Nachhilfe aus dem Ausland. Aus freien Stücken hätte Deutschland keine Zwangsarbeiterin und kein Zwangsarbeiter mit -zig Jahren Verspätung entschädigt, wenn auch dann nur mit „Brosamen von der Herren Tische“, sofern sie so spät Jahren überhaupt noch gelebt haben.  

Zum Beispiel Griechenland:

Wir – jedenfalls die meisten Print- und elektronischen Medien - kriegen uns zur Zeit kaum noch ein wegen der angeblich faulen, korrupten, reformunfähigen Griechen und wegen des Saustalls dort, den sie in Jahren zwar angerichtet, aber bis  heute nicht einmal mit Milliardenhilfe in Ordnung bringen.

Langsam.

Aus Deutschland haben wir zu dieser Katastrophe, in der nun Hunderttausende in Arbeitslosigkeit, Elend und Armut versinken (wer es wissen will, kann es erfahren: weshalb Schulkinder vor Schwäche umfallen, Kranke nicht behandelt werden, Hungernde in Athen in Mülltonnen nach Essensresten wühlen) - wir haben einiges zur griechischen Katastrophe  beigetragen. Die deutschen Waffenschmieden – Rheinmetall, Atlas, Krauss-Maffei und wie sie alle heißen, haben Griechenland mit Rüstungslieferungen jahrelang a1les, aber auch alles, was die deutsche Rüstungsproduktion hergibt, geliefert: Fahrzeuge und Panzer, Kriegsschiffe und Sprengkörper, U-Boot- und Luftabwehrsysteme, leichte Waffen, Artillerie und Munition, eingefädelt mit permanenter Bestechung und bezahlt von Griechenland mit unbezahlbaren Krediten. Das Land verfügt – gemessen an der Bevölkerungszahl – über die größte, prall  ausgerüstete Armee in Europa, über einen riesigen Panzer-Fuhrpark mit den teuersten Leopard-Versionen aus München – ein einziges Euro-Milliardengrab.                

Ich will nicht weiter über die jüngste Vergangenheit und die aktuelle verzweifelte Lage Griechenlands reden  - sprechen wir von den Milliarden, die Deutschland als Nachfolgestaat des Dritten Reiches seit über 70 Jahren Griechenland schuldet. Es sind viele Milliarden

1941 haben die Truppen des italienischen Faschismus, vor allem aber haben die deutsche Wehrmacht und SS Griechenland besetzt, das Land über dreieinhalb Jahre lang ausgequetscht, hunderte Dörfer niedergebrannt, abertausende von Menschen – nicht nur Partisanen, nein: Alte, Frauen und Kinder - auf grauenvolle Weise umgebracht, die Landeswährung ruiniert und weit  über hunderttausend Bewohner allein in Athen dem Hungertod ausgeliefert.

Entschädigung dafür aus Deutschland?

Bewahre!

Es ist schlicht gelogen – ob nun Herren Gabriel und Steinmeier oder die früher regierenden Herren Kohl oder Schröder dies wie gnadenlose Buchhalter wiederholen und gepredigt haben: die 1960 gezahlten 115 Mio Entschädigung waren, so ist im damaligen Vertrag wörtlich zu lesen, „zugunsten der aus Gründen der Rasse, der Religion oder der Weltanschauung“ Verfolgten, also zB für die allein aus Saloniki nach Auschwitz deportierten 50.000 Juden gedacht. Kein Pfennig und kein Cent ist für etwa 30.000 massakrierte Zivilopfer, für hunderte zerstörte Dörfer, für das verwüstete Land vorgesehen, nicht einmal ein Millionendarlehen ist bis heute zurück bezahlt, das die damalige Besatzungsmacht der griechischen Regierung abgepresst hat.        

Nichts ist erledigt – die griechische Rechnung für die Entschädigung geradezu unvorstellbarer menschlicher und materieller Schandtaten steht noch offen.

Wenn wir den Schatten der Vergangenheit nicht ausweichen wollen, ist es an uns, diese blinden, hässlichen Flecken in unserer Geschichtsschreibung mit der historischen Wahrheit auszufüllen, Namen und Orte zu nennen und Verantwortung zu übernehmen - nicht zuletzt aus Solidarität mit den Opfern des Terrors von einst: hier in Bensheim, dort in Distomo oder Kalavrita oder zum Beispiel in Chortiatis bei Saloniki, wo ein Wehrmachtskommando im Juni 44 eben kurz mal 149 Zivilisten abgeschlachtet hat. 

Es ist unsere Sache, uns gegen das Lügenmärchen ALLES  IST  ERLEDIGT zu stemmen. Denn nichts ist erledigt.   

Wir wissen allzu genau, auch hier an der Bergstraße, dass Bertolt Brechts „Memento“ zutrifft:

„… Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch.“             

 

 

Christoph Jetter
06.04.2015
Schlagwörter: