Eine »Schandgasse« im Arbeitskampf

50 Jahre Merckstreik - Ein Streik von politischer Bedeutung

Dieser Streik schrieb Geschichte. Vor 50 Jahren streikten 5.000 Beschäftigte der Firma Merck in Darmstadt für bessere Löhne und eine hohe Mindestforderung. Die Kampfbereitschaft der Merck-Beschäftigten war enorm. Doch der Hauptvorstand der IG Chemie versagte dem Streik die notwendige Unterstützung und ging zusammen mit der Tarifkommission auf einen schlechten Kompromiss mit den Arbeitgebern ein und erklärte den Arbeitskampf für beendet. Die betriebliche Streikleitung von Merck schrieb an den Hauptvorstand; »Wir fordern den verräterischen Hauptvorstand auf, sofort zurückzutreten und Neuwahlen einzuleiten.« Dazu kam es nicht. Stattdessen wandelte sich die IG Chemie von einer eher linken Gewerkschaft zu einer sozialpartnerschaftlichen Organisation auf dem rechten Flügel des DGB.

Der Streik hatte eine politische Bedeutung, die weit über die Tarifforderungen hinausging. Er verdeutlichte in der Gewerkschaft den Gegensatz von kämpferischer und sozialpartnerschaftlicher Politik. Die Streikenden erhielten Unterstützung aus der gesamten städtischen Linken. Große Bedeutung hatte er auch für die universitäre Linke, die nach den „wilden Streiks“ 1969 in der Stahl- und Metallindustrie die Rolle der Arbeiterbewegung neu bestimmten.

Im Folgenden drucken wir zum Merck-Streik 1971 mit freundlicher Genehmigung des Autors die von uns gekürzte Fassung eines Artikels von Sebastian Voigt, der in der Ausgabe 8-9/2020 des „Express - Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit“ erschien. Eine Langfassung des Artikels mit umfangreichem Fußnotenapparat erschien in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 3/2020, S. 409 – 449.

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Am 4. Juli 1971 versammelten sich Vertrauensleute der Industriegewerkschaft Chemie – Papier – Keramik (IG Chemie) in einer Turnhalle in Bessungen. Insgesamt nahmen etwas über einhundert Personen teil, darunter einige Mitglieder linker Gruppierungen der örtlichen Hochschule. Einen Tag zuvor hatten die Gewerkschaft und der Arbeitgeberverband der chemischen Industrie in Bonn ein Abkommen ausgehandelt, um den bis dahin einzigen Flächenstreik in der westdeutschen Chemieindustrie beizulegen.(…)

Das Abkommen musste noch von den zuständigen Gremien gebilligt werden, traf aber keineswegs bei allen Mitgliedern und gewerkschaftlichen Vertrauensleuten auf Zustimmung. Gerade bei Merck in Darmstadt hatten diese zusammen mit dem Leiter der örtlichen Verwaltungsstelle, Heinz-Günter (HG) Lang, einen konfrontativen Kurs gefahren. Entsprechend erbittert war der Arbeitskampf geführt worden. Als Mitglied des geschäftsführenden Hauptvorstands der IG Chemie wohnte Hermann Rappe der Versammlung bei, um das ausgehandelte Ergebnis zu erläutern.

(…)Die Atmosphäre war angespannt, die Stimmung aggressiv. Buh-Rufe und Beleidigungen unterbrachen seine Ausführungen, bis er schließlich gar nicht mehr weiterreden wollte. Rappe befand sich während des gesamten Treffens in der Defensive. Zwar traten inhaltliche Differenzen zwischen hauptamtlichen Funktionären und Vertrauensleuten häufiger auf, jedoch waren solch heftige Anfeindungen unter KollegInnen ungewöhnlich.

Der Arbeitskampf bei Merck 1971 markiert ein lokal- und gewerkschaftsgeschichtlich bedeutendes Ereignis. Am Beispiel des Streiks lässt sich die Verfasstheit der industriellen Beziehungen im »rheinischen Kapitalismus« Anfang der 1970er Jahre wie in einem Brennglas untersuchen. Ein Streik als kollektiver Protest stellt für alle Beteiligten ein Moment verdichteter Erfahrung dar, das den Betriebsalltag durcheinanderwirbelt. Die betrieblichen Hierarchien werden durchbrochen, Machtverhältnisse temporär neu austariert. In solchen Konfliktsituationen offenbaren sich bestehende Differenzen zwischen Lohnabhängigen und Arbeitgebern, zwischen Gewerkschaft und Betriebsrat, aber auch innerverbandliche Konflikte in seltener Deutlichkeit. (…)

Gerade die IG Chemie wandelte sich in diesem Zeitraum deutlich von einer Gewerkschaft auf dem linken Flügel des DGB zu einer sozialpartnerschaftlichen Organisation. Der Chemiestreik 1971 mit seinen Konsequenzen spielte dabei eine zentrale Rolle.

Die Vorgeschichte des Streiks

Der erste konjunkturelle Einbruch seit Gründung der Bundesrepublik war 1966/67 nicht zuletzt deshalb rasch überwunden worden, weil die Gewerkschaften sich mit Lohnforderungen bewusst zurückgehalten hatten. Von der bald wieder erstarkten Konjunktur profitierten die ArbeitnehmerInnen deswegen zunächst kaum. Entsprechend groß war der Unmut, der sich schließlich im September 1969 in »wilden« Streiks Bahn brach.

Unorganisierte Arbeitskämpfe jenseits des gesetzlich festgelegten Ablaufs und des gewerkschaftlichen Streikmonopols waren in der Bundesrepublik bis dato nahezu unbekannt. Dies galt umso mehr für die chemische Industrie, die sich traditionell durch eine sozialpartnerschaftliche Struktur, ein betriebliches Gratifikationssystem und eine damit einhergehende starke Firmenbindung auszeichnete. Diese Spezifika kennzeichnen bis heute die Branche, in der traditionell wenige Großunternehmen dominieren. (…)

Neben hoch qualifizierten Tätigkeiten war in der chemischen Industrie auch einfache Handarbeit erforderlich. Daher differierten die Einkommen innerhalb der einzelnen Unternehmen markant. Die umfangreichen Sozialleistungen in den Großunternehmen verschärften wiederum die Differenzen zwischen verschiedenen Firmen. Die IG Chemie suchte seit Langem nach einem angemessenen Umgang damit.

Eine Möglichkeit dazu boten Festbeträge statt prozentuale Lohnerhöhungen. So forderte beispielsweise der Bezirk Hessen für die Tarifrunde 1971, die Löhne und Gehälter einheitlich um mindestens 120 DM anzuheben. Als weiteres Mittel, um die Lohnspreizung in der Branche einzudämmen, hatten die Delegierten bereits auf dem Achten Ordentlichen Gewerkschaftstag Ende August 1969 in Wiesbaden eine betriebsnahe Tarifpolitik forciert.

In der Tarifrunde 1970 beabsichtigte die Gewerkschaft in ausgewählten Bezirken erste Schritte in diese Richtung. Die Arbeitgeber stellten sich diesem Vorhaben konsequent entgegen, und die Verhandlungen scheiterten sofort. Die IG Chemie rief zu punktuellen Warnstreiks auf und konnte schließlich eine Erhöhung von Löhnen und Gehältern um gut 16 Prozent durchsetzen. Dieses Ergebnis wertete das Hauptvorstandsmitglied Erwin Grützner als überwältigenden Erfolg und als »eine erste Etappe auf dem Wege zu einer betriebsnahen Tarifpolitik«. Aus gewerkschaftlicher Perspektive hatte das neue Jahrzehnt mit beachtlichen Erfolgen begonnen.

Fristgerecht kündigte die IG Chemie Mitte Februar 1971 die Tarifverträge für die gut 400.000 Beschäftigten der chemischen Industrie in den Bezirken Nordrhein, Hessen und Rheinland-Pfalz, in denen die Großunternehmen ihren Sitz hatten. Zunächst deutete noch alles auf das rituelle Muster jährlicher Tarifrunden hin ‒ doch der Schein trog. Der Arbeitsring der Arbeitgeberverbände der Deutschen Chemischen Industrie e.V. verfolgte nämlich eine ungewohnt konfrontative Strategie, die sich schon seit den Herbstmonaten 1970 abgezeichnet hatte. Der Verband wies in einem internen Schreiben alle Mitgliedsfirmen darauf hin, dass bei künftigen Tarifverhandlungen heftige Auseinandersetzungen aller Voraussicht nach nicht zu vermeiden seien, und forderte die Unternehmen zur gegenseitigen Unterstützung bei Streiks auf, um die Produktion unter allen Umständen aufrechtzuerhalten. Das Präsidium hatte diese Richtlinien bereits am 1. Oktober 1970 verabschiedet; die Arbeitgeber bereiteten sich also bereits auf eine Eskalation vor, bevor die IG Chemie überhaupt Forderungen erhoben hatte.

In der Auftaktrunde Mitte April 1971 forderte die gewerkschaftliche Tarifkommission für den Bezirk Nordrhein, die Löhne um zwölf Prozent anzuheben, das 13. Monatsgehalt tariflich abzusichern und die Ausbildungsvergütungen zu erhöhen. (…)

Der Beginn des Arbeitskampfs und die Eskalation bei Merck

Mit dem Scheitern der Schlichtung in Nordrhein am 2. Juni 1971 galt die Friedenspflicht nicht mehr. Der geschäftsführende Hauptvorstand der IG Chemie verkündete daraufhin den aktiven tariflosen Zustand. Die Satzung gestattete Arbeitskampfmaßnahmen ohne vorherige Urabstimmung.

(…) Nachdem der Streik bereits Anfang Juni in Nordrhein begonnen hatte, kamen Mitte des Monats schließlich die Tarifpartner in Hessen zusammen. Ein paar Tage vorher hatte eine Versammlung gewerkschaftlicher Vertrauensleute nachdrücklich angemahnt, unter keinen Umständen von der Forderung nach einem Festbetrag abzurücken. (…) Die Schlichtung scheiterte, und die IG Chemie verkündete auch für Hessen den aktiven tariflosen Zustand. Am 15. Juni beteiligten sich bereits mehrere tausend Personen an unterschiedlichen Aktionen – auch bei Merck.

Im Darmstädter Hauptsitz der zweitgrößten hessischen Chemiefirma arbeiteten ungefähr 8.000 Beschäftigte, knapp die Hälfte davon als Angestellte. Die gewerkschaftliche Organisationsquote lag mit 60 Prozent über dem Branchendurchschnitt. Als größter Arbeitgeber Darmstadts war Merck für die IG Chemie von zentraler Bedeutung. Die örtliche Verwaltungsstelle war insgesamt für etwa 15.000 Gewerkschaftsmitglieder in knapp 100 Betrieben zuständig und beschäftigte sechs Personen, darunter zwei Sekretäre und einen Geschäftsführer – seit 1964 HG Lang. (…) Von Beginn an baute er gezielt die Bildungsarbeit aus und organisierte unzählige Seminare im Gewerkschaftshaus.

Exemplarisches Lernen

Die IG Chemie legte, wie viele DGB-Gewerkschaften in der Nachkriegszeit, großen Wert auf die Schulungsangebote für ihre Sekretäre und Mitglieder. Um die Verankerung in den Unternehmen zu konsolidieren, entwickelten sie zusammen mit sympathisierenden WissenschaftlerInnen in den 1960er Jahren das Konzept einer betriebsnahen Bildungsarbeit. (…)

Bereits am 15. Juni 1971, dem ersten Aktionstag in Hessen, nahmen in Darmstadt über 1.000 Personen an einer Protestversammlung teil. Am Tag darauf legten viele Beschäftigte ihre Arbeit komplett nieder. Sie wählten eine 15-köpfige Streikleitung unter Vorsitz von Ludwig Kaufmann und beriefen eine Betriebsversammlung ein. Die Firmenleitung ermahnte daraufhin alle Abteilungsleiter, ihren Mitarbeitern nahezulegen, sich nicht an dem Arbeitskampf zu beteiligen. Sie hielt ihn für illegal, weil der Vorstand der IG Chemie vorher keine Urabstimmung durchgeführt hatte, was aber nach der Satzung möglich war.

Die Auseinandersetzung bei Merck beschränkte sich nicht auf das Unternehmensgelände. Schon frühzeitig strahlte der Streik in die Stadtöffentlichkeit aus. Verschiedene Gruppierungen verteilten Flugblätter vor den Werkstoren, der Allgemeine Studentenausschuss der Technischen Hochschule Darmstadt solidarisierte sich mit den Streikenden ebenso wie verschiedene marxistisch-leninistische Kleingruppen. Der Ring Christ­lich-Demokratischer Studenten hingegen warnte vor dem Einfluss von Kommunisten. Vom Vorwurf der kommunistischen Unterwanderung distanzierte sich die IG Chemie ausdrücklich. Die Situation bei Merck spitzte sich in den kommenden Tagen weiter zu. So verlief eine Betriebsversammlung am 21. Juni in Anwesenheit der Firmenleitung äußerst kontrovers. Letztlich stellte sich jedoch der Betriebsrat ohne Abstriche hinter die gewerkschaftlichen Forderungen. Anschließend formierten sich die Teilnehmer zu einer Demonstration. Auf der Abschlusskundgebung rief HG Lang zum unbefristeten Vollstreik auf.

Als Linkssozialist gehörte er zweifellos zu einer Minderheit unter den hauptamtlichen Funktionären. Dennoch war eine kämpferisch-konfrontative Haltung, die sich nicht mit der sozialpartnerschaftlichen Rolle der Gewerkschaften zufriedengeben wollte, seinerzeit in vielen DGB-Gewerkschaften wahrnehmbar – ganz besonders in der IG Chemie. Dieser Befund verweist auf sozio­politische Entwicklungen, die in die späten 1960er Jahre zurückreichten. Vor allem die Wahl des ersten sozialdemokratischen Bundeskanzlers Willy Brandt und die von der sozial-liberalen Regierung angekündigten Reformvorhaben weckten bei vielen Gewerkschaftern große Hoffnungen. Zugleich brachten die »wilden« Streiks des Herbst 1969 und die sich formierende Lehrlingsbewegung die Gewerkschaften in Zugzwang. Die verbreitete Reformstimmung in der bundesdeutschen Gesellschaft und die Politisierung der jungen Generation verschaffte auch jenen kritischen Stimmen in den Gewerkschaften mehr Gehör, die einer tiefgreifenden Transformation der bestehenden Verhältnisse das Wort redeten. (…)

Nachdem Lang am 21. Juni 1971 zum Arbeitskampf aufgerufen hatte, verschlossen Streikposten am nächsten Morgen zur Frühschicht die Werktore. In den kommenden Tagen legten rund 5.000 Beschäftigte, also mehr als die Hälfte der Belegschaft, die Arbeit nieder. Die Firmenleitung wies in Zeitungsanzeigen darauf hin, dass nur diejenigen weiter ihren Lohn erhielten, die zur Arbeit erschienen. Außerdem dürfe niemand am Betreten des Werkgeländes gehindert werden. Damit Arbeitswillige das Gelände betreten konnten, ließ die Geschäftsleitung Löcher in den Maschendrahtzaun schneiden und Leitern aufstellen. In den kommenden Tagen gerieten arbeitswillige Beschäftigte deshalb mehrfach handgreiflich mit Streikposten aneinander. Die Streikenden legten die Produktion nahezu vollständig lahm.

Letztendlich beantragte die Firmenleitung eine einstweilige Verfügung gegen die IG Chemie. Sie forderte eine drei Meter breite Gasse zum Werksgelände, weil bewaffnete Streikposten arbeitswillige Kollegen bedrohen würden. Zunächst verfügte das Arbeitsgericht Darmstadt am 26. Juni den unbeschränkten Zugang. Der Einspruch der Gewerkschaft mündete zwei Tage später in einem Vergleich. Darüber informierte die Unternehmensleitung wie folgt: »In der Zeit von 6.45 Uhr bis 7.45 Uhr können alle Werksangehörigen das Haupttor und das Südtor über einen durch weiße Linien gekennzeichneten Durchgang betreten.« Dieser Durchgang war zweieinhalb Meter breit und ist als »Schandgasse« in die Geschichte von Merck eingegangen.

Notwendiger Kompromiss oder Verrat?

Auf einer Sitzung am 27. Juni mit den Streikleitern aus den verschiedenen Bezirken und Regionen beschloss der Hauptvorstand der IG Chemie, den Druck nochmals zu erhöhen. Noch immer befanden sich bundesweit mehrere 10.000 Beschäftigte im Ausstand. Allerdings manifestierte sich mittlerweile in vielen Unternehmen ein deutlicher Dissens zwischen Gewerkschaft und Betriebsräten. So lehnte beispielsweise der Betriebsrat von Hoechst jegliche Aktion ohne Urabstimmung ab und unterminierte damit das gewerkschaftliche Ansinnen, das wichtigste hessische Unternehmen noch in den Streik einzubeziehen.

Ein weiteres Gespräch der Tarifparteien scheiterte am 29. Juni 1971. Beide Verhandlungspartner beharrten auf ihren Positionen. Jedoch hatte sich das Blatt mittlerweile zu Ungunsten der Gewerkschaft gewendet. Vor allem im Bezirk Nordrhein bröckelte die Front der Streikenden. (…) Im Gegensatz zur allgemeinen Lage hatten die Beschäftigten in vielen hessischen Betrieben – besonders bei Merck – die Streikbereitschaft aber nicht nur aufrechterhalten, sondern weiter gesteigert und sogar die Auszubildenden mobilisiert.

Auf Bundesebene einigten sich die Tarifpartner am 3. Juli auf eine Lohn- und Gehaltserhöhung von 7,8 Prozent ab Juni, eine Einmalzahlung von 60 DM für die Monate April und Mai sowie die stufenweise Einführung des 13. Monatseinkommens. (…)

Trotz des im Vergleich zu den anfänglichen Forderungen mageren Resultats präsentierte die Gewerkschaftsführung die Einigung als Erfolg. Nach dem härtesten und längsten Arbeitskampf in der chemischen Industrie musste sie ein annehmbares Ergebnis vorweisen, um ihr Gesicht nicht zu verlieren. Aber viele Beteiligte waren davon nicht überzeugt.

Weil der Hauptvorstand Kritik erwartet hatte, suchte er das Gespräch mit den Streikenden – wie Rappe am 4. Juli in Darmstadt. Doch auch an den folgenden Tagen nahmen bei Merck mehrere Tausend Beschäftigte an weiteren Versammlungen teil. Bereits nachdem das Schlichtungsergebnis bekannt geworden war, hatte die betriebliche Streikleitung in einem Telegramm an den IG Chemie-Vorstand die Einigung als inakzeptables »Lohndiktat« und »betrügerisches Pokerspiel« bezeichnet. Das Schreiben schloss mit deutlichen Worten: »Wir fordern den verräterischen Hauptvorstand auf, sofort zurückzutreten und Neuwahlen einzuleiten.«

Trotz der lautstarken Kritik stimmte die Tarifkommission der IG Chemie letztlich dem Ergebnis zu. In der Abstimmung sprachen sich lediglich drei ehrenamtliche Mitglieder des Hauptvorstands dagegen aus. Anschließend erklärte die Gewerkschaft den Arbeitskampf für beendet. Seine Nachwehen zogen sich allerdings noch eine ganze Weile hin. So strebte die Unternehmensleitung von Merck trotz anderslautender Zusagen doch gerichtliche Sanktionen gegen die Streikenden an und setzte aktive Vertrauensleute und Beschäftigte betrieblich unter Druck, sei es durch Versetzungen, Streichung von Urlaub oder Nicht-Übernahme von Lehrlingen.

Neben diesen Repressalien verklagte die Unternehmensleitung 1971 zusätzlich den gewerkschaftlichen Streikleiter HG Lang und den betrieblichen Streikleiter Ludwig Kaufmann jeweils auf Schadenersatz in Höhe von 100.000 DM plus Zinsen. Sie warf ihnen vor, den Arbeitskampf vertragswidrig in die Länge gezogen zu haben. Sie trügen Mitverantwortung dafür, dass Arbeitswillige durch Gewalt und Drohungen am Betreten des Werkgeländes gehindert worden seien. Der Prozess zog große Aufmerksamkeit auf sich; bei der Urteilsverkündung am 9. September 1971 war der Gerichtssaal bis auf den letzten Platz gefüllt. Das Arbeitsgericht verwarf die Klage, da sie der Einigung widerspreche, in der die Arbeitgeber auf juristische Maßnahmen verzichtet hätten. Trotz dieses Erfolgs besserte sich das Verhältnis zwischen HG Lang und dem IG Chemie-Hauptvorstand nicht.

Heinz-Günter Lang und die IG Chemie

Der Arbeitskampf bei Merck hatte die Entfremdung sogar noch weiter vertieft. HG Lang war beim Hauptvorstand ohnehin nicht wohlgelitten gewesen, doch nun erwiesen sich die Differenzen als unüberbrückbar. Ein Konflikt um die Betriebsratswahl bei Merck brachte das Fass 1972 schließlich zum Überlaufen.

Die Vertrauensleute bei Merck gewährten den zum Teil langjährigen Betriebsräten keine sicheren Plätze mehr auf der Wahlliste der IG Chemie. Daraufhin stellten diese eigene Listen auf. Die Verwaltungsstelle Darmstadt strengte daraufhin ein Ausschlussverfahren gegen die betreffenden Personen an. Der Beschwerdeausschuss der Gewerkschaft lehnte die Ausschlüsse ohne Begründung ab, und auch der Hauptvorstand schlug sich auf die Seite der Betriebsräte. Als Verfechter innerverbandlicher Demokratie ergriff Lang hingegen Partei für die von Gewerkschaftsmitgliedern gewählten Vertrauensleute und gegen die vom Hauptvorstand unterstützten Betriebsräte. Letztlich setzte sich der Vorstand durch. HG Lang sah die Satzungsbestimmungen verletzt und kündigte sein Arbeitsverhältnis zum 31. März 1973. In seinem Kündigungsschreiben betonte er die Notwendigkeit demokratischer Entscheidungsprozesse. Mit den vom Hauptvorstand unterstützten Betriebsräten hingegen könne er »keine gewerkschaftlich sinnvolle Arbeit mehr leisten, ohne meine eigene gewerkschaftliche Überzeugung aufgeben zu müssen, da ich sie nicht mehr als Vertreter der Arbeitnehmerinteressen akzeptieren kann«. (…)

Sebastian Voigt / siehsmaso
18.02.2021