"Wir brauchen wieder eine Wohnungspolitik, die ihren Namen verdient"

Redebeitrag bei der Demonstration anlässlich des Landesparteitags der CDU

Am 16. Juni nahmen in Darmstadt ca. 300 Menschen an einer Demonstration anlässlich des Landesparteitages der CDU teil, bei der auch Bundeskanzlerin Angela Merkel zu Gast war. Themen des Protestes waren der geplante Fiskalpakt in der EU, die Bildungspolitik, die Situation der Schleckerbeschäftigten und die Lage auf dem Wohnungsmarkt. Im Folgenden dokumentieren wir die Rede von Margit Heilmann vom Mieterbund Darmstadt, die sich mit der Wohnungspolitik im Allgemeinen und speziell auch mit dem - inzwischen zurückgezogenen Plan - zur Privatisierung der Wohnungsbaugesellschaft "Nassauische Heimstätte" beschäftigt.

 

Liebe Bürgerinnen und Bürger,

während die hessische CDU gegenüber im Darmstadtium tagt

  • Ist die Zahl der gebauten Sozialwohnungen in Deutschland für untere Einkommensgruppen auf 0,05% pro Jahr gesunken;
  • warten allein in DA 2.200 Haushalte dringend auf die Vermittlung einer Sozialwhg, weil sie sich die saftigen Preise auf dem Darmstädter Wohnungsmarkt nicht leisten können;
  • ist das erst 2009 nach langem Kampf angepasste Wohngeld wiederum deutlich gekürzt worden;
  • sind die Mittel der Städtebauförderung insbesondere beim Programm Soziale Stadt drastisch zusammengestrichen worden, obwohl diese Programme nachweislich zu einer verbesserten Wohnsituation in belasteten Quartieren geführt haben;
  • sind die Haushaltsausgaben für das "Wohnen" seit 2006 gerade in den unteren Einkommensgruppen dramatisch angestiegen; der Anteil der Haushalte, die mehr als 40% des monatlichen Nettoeinkommens für Unterkunftskosten aufwenden müssen ist auf 24% gestiegen und nimmt damit einen Spitzenplatz im europäischen Vergleich ein;
  • ist eine erneute Verschärfung des Mietrechts geplant, die weiter einseitig die Kosten der energetischen Sanierung auf die Schultern der Mieter legen will;
  • ist der ungenierte Ausverkauf mit Steuergeldern errichteter Wohnungen in Hessen durch den geplanten Verkauf der Nassauischen Heimstätte durch das Land Hessen in vollem Gang;

So sieht die Bilanz schwarz-gelber Wohnungspolitik im Jahr 2012 aus und es ist eine beschämende Bilanz, die uns alle angeht. Bereits mit Ihrem Haushaltsgesetz 2011 hat die Bundesregierung drastische Einschnitte im Sozialetat vorgenommen. Diese Einschnitte haben die sich bereits seit 2006 abzeichnenden Auswüchse auf dem Wohnungsmarkt dramatisch verstärkt. Eine neue Wohnungsnot steht vor der Tür. Es ist der Mangel an bezahlbarem Wohnraum für die mittleren und unteren Einkommensschichten, der jetzt die Quittung für eine jahrelang systematisch betriebene Entsolidarisierung in unserer Gesellschaft ist. Es ist die fortschreitende Spaltung in Arm und Reich, die jetzt einen der Grundpfeiler jeder zivilisierten, reichen Gesellschaft ins Wanken bringt: für jeden Menschen eine bezahlbare, warme, unantastbare Wohnung zur Verfügung zu stellen.

Sie sparen nicht, Frau Merkel, Sie sorgen seit Jahren für eine gigantische Umverteilung von Vermögen von unten nach oben. Sie haben mit Ihrer Politik dafür gesorgt, dass Realeinkommen und Mieten seit Jahren auseinanderdriften. Die Auswirkungen dieser Klientelpolitik werden den Wohnungsmarkt bereits in den in den nächsten 5 Jahren mit voller Wucht treffen und sich dramatisch auf den sozialen Frieden im Land auswirken.

Wir brauchen wieder eine Wohnungspolitik, die ihren Namen verdient. Sie ist lange genug Stiefkind einer Politik gewesen, die sich auf den falschen Prognosen eines vermeintlichen Bevölkerungsrückganges ausgeruht hat.

Wir fordern den ernsthaften Wiedereinstieg in den sozialen Wohnungsbau, der das allein taugliche Steuerungsinstrument auf einem sich zuspitzenden Wohnungsmarkt ist und der allein die erheblich notwendige Ausweitung des Wohnungsbaus in den Ballungsgebieten gewährleisten kann.

Wir fordern bezahlbaren Wohnraum für alle und Gerechtigkeit bei der Finanzierung der Wohnkosten, wozu vor allem auch die gerechtere Verteilung der Kosten des Klimaschutzes im Gebäudebestand und der Energiewende gehören.

Wir fordern eine Begrenzung des Mietenanstiegs in den Ballungsräumen. Wohnungsen sind keine beliebige Ware, die unter Renditegesichtspunkten nach Angebot und Nachfrage gehandelt werden und den Mieterinnen und Mietern den letzten Euro abpressen dürfen, nur weil Wohnungen wieder knapp sind.

Menschen können verzichten: auf Autos, Reisen, teures Essen, aber nicht auf eine bezahlbare, warme Wohnung.

Wir fordern Sie auf, Bundesregierung: Finger weg vom Mietrecht! Nehmen Sie Ihre billige Klientelpolitik zurück, mit der Sie Ihrem Koalitionspartner FDP im Wahljahr 2013 auf Kosten der Mieter unter die Arme greifen möchten. Verzichten Sie auf Ihre Pläne, das soziale Mietrecht weiter auszuhöhlen, stoppen Sie Ihre ungerechten Pläne, die Kosten der energetischen Sanierungen noch hemmungsloser als bisher auf die Schultern der Mieterinnen abzuwälzen.

Wir fordern die hessische Landesregierung auf: Finger weg von der Nassauischen Heimstätte! Mit Steuergeldern errichtete Wohnungen müssen auch im Eigentum der Steuerzahler bleiben. Sie wollen ausgerechnet in Zeiten sich verschärfender Zustände auf dem Wohnungsmarkt ihr einziges Steuerungsinstrument fahrlässig aus der Hand geben und es den deregulierten Kräften des Marktes zur Beute vorwerfen. Wohl wissend, wie sich der Wohnungsmarkt entwickelt, wenn Annington, Gagfah, Fortress und Co sich eingenistet haben.

Wir fordern die Stadt Darmstadt auf: Kein Verkauf von 700 städtischen Wohnungsen, ohne den Bürgern vorher Rechenschaft darüber abzulegen, wie die Stadt künftig ihrer Verpflichtung nachkommen will, Wohnraum auch für die Schwächsten der Stadt vorzuhalten.

Erklären Sie sich, statt sich hinter Ihrem Lieblingsargument der leeren Kassen zu verschanzen.

Und eine Schande ganz besonderer Art ist es, Frau Bundeskanzlerin, wenn die Immobiliengesellschaft des Bundes aus finanziell unter Druck stehenden Städten wie Darmstadt, das letzte Hemd herauspressen will, beim unwürdigen Geschachere um die dringend benötigten Gelände der abgezogenen amerikanischen Truppen.

Frau Merkel, Ihre Bundesregierung hat sich 2006 aus der Verantwortung für einen sozialen Wohnungsbau geschlichen und die Zuständigkeit dafür auf die Länder verlagert. Bis 2013 werden hierfür Ausgleichszahlungen in Höhe von 500 Mio. Euro an die Länder geleistet.

Wir fragen Sie: wer soll nach 2013 Sozialwohnungen finanzieren? Schon heute beträgt der Anteil an Sozialwohnungen in Deutschland nur noch 4% während sich unsere europäischen Nachbarn Niederlande, Frankreich, Österreich, Schweden 15% und mehr leisten. Und ausgerechnet das reiche Deutschland muss auf Kosten der Ärmsten sparen? Schon in 5 Jahren werden 400.000 Wohnungen fehlen, weil sich Bund und Länder systematisch seit Jahren aus der Wohnraumförderung davon geschlichen haben. Die neue Wohnungsnot ist keine Naturkatastrophe. Die fehlenden Wohnungen von heute haben Sie zu verantworten.

Wie wollen Sie künftig immer mehr älteren Menschen mit absehbar niedrigen Renten, jungen Menschen, von einem zynischen Arbeitsmarkt abgespeist mit 5-Euro-Jobs, jungen Familien, Auszubildenden und Studierenden erklären, dass für Sie bezahlbarer Wohnraum nicht mehr vorgesehen ist? Weil Sie sich aus der Verantwortung geschlichen haben und einen Großteil einst mit öffentlichen Mitteln gebauter Wohnungen an Spekulanten verschachert haben.

Wir fordern Sie auf, die Ausgleichszahlungen für den sozialen Wohnungsbau über das Jahr 2013 hinaus fortzuführen und gleichzeitig deutlich zu erhöhen. Und wir fordern die hessische Landesregierung auf, Ihre auf ein Minimum reduzierte Wohnraumförderung drastisch zu erhöhen. 98% der Deutschen - unabhängig von Einkommen und Wohnsituation - sind nach einer aktuellen Umfrage überzeugt, dass Sozialwohnungen auch in Zukunft benötigt werden. 98% haben ein feineres Gespür für existentielle Notwendigkeiten und soziale Gerechtigkeit als alle unsere Parteien zusammen.

Wir brauchen eine neue Wohnungpolitik. Eine, die mit Weitblick, Verantwortungsgefühl und politischem Sachverstand das schwer lenkbare Schiff "Wohnungsbau" steuert. Eine, die nicht immer erst dann merkt, dass Wohnraum knapp wird, wenn die Wohnkosten einen Großteil der Mieterinnen und Mieter bereits im Würgegriff haben.

Wir brauchen eine neue Wohnungspolitik, die uns nicht mehr mit dem Totschlagsargument des Bevölkerungsrückganges abzuspeisen versucht. Der Zustrom in die Städte ist so groß wie nie zuvor und Wohnungen brauchen die Erwachsenen von heute und nicht die wenigen heute geborenen Kinder.

Wir brauchen eine neue Wohnungspolitik, eine die sich ihrer Verantwortung stellt und die Versorgung mit Wohnraum als elementare staatliche Aufgabe annimmt. Daran müssen wir, liebe Bürgerinnen und Bürger, Politik künftig messen, bevor wir uns an die Wahlurnen schicken lassen, um politische Weichen zu stellen.

Wir sollten eine neue Wohnungpolitik zur Waagschale für das Wahljahr 2013 machen. Wir sollten uns nicht mehr abspeisen lassen mit abgedroschenen Beschwichtigungen und halbherzigen Versprechen. Wohnen ist ein Menschenrecht. Es steht nicht zur politischen Disposition und taugt schon gar nicht als Opfer für eine schon historisch falsche Sparpolitik. Wer sagt, es sei keine politische Aufgabe, bezahlbare Wohnungen für alle zu schaffen, der spielt mit dem sozialen Frieden im Land und ist nicht länger tragbar in der Regierungsverantwortung, nicht in den Städten, nicht im Land, nicht im Bund.

Wir sollten ab sofort immer wieder deutlich hörbar unsere Stimmen erheben und eine neue Wohnungspolitik einfordern, um damit für uns alle verträgliche, sozial gerechte Lebens- und Wohnverhältnisse zu sichern.

Margit Heilmann
02.07.2012
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