Warum ausgerechnet AfD?

Rechtsrutsch auch bei den Kommunalwahlen in Darmstadt

Die Darmstädter Kommunalpolitik präsentiert Darmstadt gerne als „weltoffen“ und „tolerant“. Entsprechend schockiert zeigten sich die Repräsentanten der Stadt, als am Abend des sechsten März die ersten Ergebnisse der Kommunalwahlen bekannt wurden. So konnte die AfD mit ihren rassistischen Sprüchen in den Wahllokalen der Wilhelm-Hauff-Schule in Eberstadt-Süd mehr als ein Viertel der abgegebenen Stimmen erringen. Das Ergebnis wurde zwar durch die Ergebnisse anderer Bezirke relativiert, aber auch nach Auszählung aller Stimmzettel blieb der AfD noch ein Stimmenanteil von über neun Prozent.

Einigen Stadtpolitiker_innen scheint der Erfolg der AfD gerade in den sozial schwachen Vierteln unverständlich. So zitiert das Darmstädter Echo die Grüne Iris Bachmann: „Ausgerechnet in den sozialen Brennpunkten, wo wir eine so engagierte Sozialpolitik machen, das Programm soziale Stadt, Kinderbetreuung für alle, ich verstehe das nicht. Wir müssen uns anstrengen diese Leute zurückzuholen.“ Interessant dürfte allerdings sein, wie ausgerechnet grüne Politik dieses hehre Ziel erreichen will.

Die Bewohner_innen sozialer Brennpunkte bildeten nämlich nie die Basis der grünen Partei. Dies war seit der Gründung die intellektuelle und urban geprägte Mittelschicht. Das Durchschnittseinkommen der GRÜNEN-Wähler_innen ist heute höher als das der Wähler_innen jener Partei, die sich einst als die Partei der „Besserverdienenden“ bezeichnete: der FDP. Probleme auf dem Arbeitsmarkt haben sie gerade in Darmstadt mit drei Hochschulen, wissenschaftlichen Instituten und den vielen IT-Betrieben kaum. Das Geld reicht auch für annehmbare Wohnungen. Die Probleme in den sozialen Brennpunkten dringen so kaum in die Diskussionen der Partei. Die Menschen dort werden allenfalls als „Problemfälle“ wahrgenommen, um das es sich zu kümmern gilt.

Die Schichten, die heute in den sozialen Brennpunkten leben, gehörten vor Jahrzehnten wohl eher zur Stammwählerschaft der SPD. Auch wenn sie keinen Beruf gelernt hatten, gab es für sie doch eine soziale Sicherheit, die sich nicht wesentlich von Jener anderer Arbeitnehmer_innen unterschied. Eine hohe Tarifbindung sorgte dafür, dass sie nicht von der allgemeinen Lohnentwicklung abgehängt wurden. Dies änderte sich etwa seit den achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts, zuerst langsam, dann immer rasanter. Die Nachkriegskonjunktur ging zu Ende, die Kapazitäten der Unternehmen waren nicht mehr voll ausgelastet, die Konkurrenz wurde größer. Es begann eine Entwicklung, die unter dem Stichwort „Globalisierung“ bekannt wurde. Um Lohnkosten zu sparen, verlagerten die Unternehmen Produktion in Billiglohnländer. Auch im Inland war es das erste Ziel, „konkurrenzfähig“, “schlanker“ zu werden. Es gab umfangreiche Rationalisierungsprogramme, Personalabbau und die Auslagerung von Unternehmensteilen, natürlich zu schlechteren Bedingungen für die Beschäftigten. Vorangetrieben wurde diese Entwicklung durch politische Eingriffe, die ebenfalls zum Ziel hatten, die Stellung der einheimischen Unternehmen auf dem Weltmarkt zu stärken. Maggy Thatcher in Groß-Britannien und Ronald Reagan machten den Anfang. Doch schon bald setzte sich der Neoliberalismus auch in Kontinentaleuropa durch, vor allem nach dem Fall der Mauer, als der Kapitalismus kein gegnerisches System mehr fürchten musste und das „Ende der Geschichte“ proklamiert wurde. Sozialabbau, Rentenkürzungen, Privatisierung öffentlicher Dienstleistungen und die Schleifung von Rechten der Arbeitnehmer_innen waren und sind die Maßnahmen, die dazu beitragen sollen, die Gewinne der Unternehmen trotz starker Konkurrenz zu sichern. Mit der Agenda 2010 (Hartz IV, Leiharbeit u.ä.) wurde dies in Deutschland am vehementesten ausgerechnet von der SPD vorangetrieben, unterstützt vom grünen Koalitionspartner.

Die Unternehmen konnten so viel Ballast abwerfen, um schlank zu werden und fit für den Konkurrenzkampf. Dieser Ballast aber sind Menschen und deren Anzahl steigt stetig. Sie sind abgehängt von der allgemeinen Entwicklung, sie sind dauerhaft arbeitslos oder kommen nur in prekären Arbeitsverhältnissen unter: schlecht bezahlt, befristet, als Leiharbeiter_in, scheinselbständig oder in einer der vielen anderen Formen, die die „Flexibilisierung der Arbeitsverhältnisse“ für sie bereit hält. Die meisten von ihnen leben seit Jahren in völlig unsicheren Verhältnissen und sie können sich auch keine Hoffnung auf die Zukunft machen. Die Erwartung, den Kindern könne es einmal besser gehen, macht schon unser Schulsystem zunichte, das wie sonst in kaum einem Land die Kinder aus unterprivilegierten Familien benachteiligt. Wohnungen in der Innenstadt sind unerschwinglich. Die Anzahl der Sozialwohnungen ist in Darmstadt im Vergleich zu den achtziger Jahren von 15.000 auf 6.000 geschrumpft. Bessere Betreuungsangebote und das Projekt „Soziale Stadt“ mit multikulturellem Kochstudio und Frühlingswanderung können an dieser Lage nichts Grundlegendes ändern, wirken eher wie ein Trostpflaster. Das heißt nicht, dass solche Projekte verzichtbar wären, ihre Wirkung ist aber sehr begrenzt.

Da sich diese Menschen ausgegrenzt fühlen, beteiligen sie sich auch kaum noch an Wahlen. Die Regierenden in Stadt, Land und Bund wechseln, die Lage in den sozialen Brennpunkten aber ändert sich nicht. In den Wahllokalen mit überdurchschnittlich hohen AfD-Anteilen, ist die Wahlbeteiligung am niedrigsten (Eberstadt Süd: AfD 25,5 Prozent, Wahlbeteiligung: 23,5 Prozent; Stadthaus Frankf.Straße: AfD 24 Prozent, Wahlbeteiligung: 19,7 Prozent).

Längst nicht alle drücken also ihre Unzufriedenheit mit einem Kreuzchen bei der AfD aus. Aber die eigenen Probleme beschränken die Solidarität mit anderen Menschen. Viele in prekären Lebenslagen können nicht verstehen, weshalb ihre Situation nahezu ignoriert wird, Flüchtlingen aus Syrien und anderen Ländern aber z.T. eine große Hilfsbereitschaft entgegengebracht wird. Dies beobachten sie zum Teil mit großer Wut und es bringt rassistische Ressentiments hervor, die zuvor noch verdeckt waren. Soweit diese Menschen der AfD ihre Stimme geben, sehen sie offenbar gar keine Notwendigkeit, sich einmal darüber zu informieren, was diese Partei außer Abschottung gegen Zuwanderung noch als Ziele formuliert.

Da sind nämlich von wichtigen Vertreter_innen der Partei knallharte neoliberale Positionen geäußert worden, wie sie selbst die FDP bisher noch nicht vorzubringen wagte. Es sind Vorstellungen, die viel mehr den Interessen der um ihre Stellung fürchtenden Mittelschichten entsprechen und die Krisenfolgen nach unten abwälzen wollen. Die AfD konnte daher auch in Bezirken mit gut situierter Wählerschaft ansehnliche Ergebnisse erzielen. Auch die Kandidat_innen der AfD-Liste entstammen eher diesem bürgerlichen Milieu. Würden die sozialpolitischen Ziele der AfD umgesetzt, hätte vor allem die Bewohner-Innen jener Viertel darunter zu leiden, in denen die Partei am meisten Zuspruch hatte. Im Vorfeld eines Programmparteitags  gibt es deshalb heftige Diskussionen zwischen dem wirtschaftsliberalen Flügel der Partei und Jenen,  die um ihre Akzeptanz bei der verarmten Bevölkerung fürchten.

Der Handlungsspielraum der Politik in Bezug auf soziale Ausgrenzung ist in der Tat beschränkt. Die grundlegenden Entscheidungen (Arbeitsplatzabbau, Verlagerungen, Ausgliederungen, Leiharbeit etc.) werden in den Unternehmen gefällt. Das gehört zur unternehmerischen Freiheit und ist notwendig, um optimale Profite durchsetzen zu können. Die Kapitaleigner_innen der multinationalen Unternehmen sind nicht nur wirtschaftlich mächtig, sie haben auch einen großen Einfluss auf politische Entscheidungen. Parlamentarische Mehrheiten alleine können die Logik des Kapitals nicht außer Kraft setzen. Das deutsche Wirtschaftsmodell mit seiner starken Exportorientierung ist gesellschaftlicher Grundkonsens. Auch Gewerkschaften und Betriebsräte beteiligen sich teilweise daran, „ihr Unternehmen“ für den Wettbewerb fit zu machen und vertreten oft nur die Interessen der Stammbelegschaften. Leiharbeiter_innen, Beschäftigte der Zulieferbetriebe oder anderer Dienstleister haben das Nachsehen. Wenn auch in geringerem Umfang müssen hierbei in der Regel aber auch die Stammbelegschaften Zugeständnisse machen.

Um den abgehängten Menschen eine Perspektive bieten zu können, ist es notwendig die herrschende Wirtschaftsweise in Frage zu stellen und sich den ökonomisch und politisch Starken in den Weg zu stellen. Die Produktion um des Profites willen stellt den gesellschaftlichen Zusammenhalt in Frage. Eine auch außerparlamentarisch starke Bewegung z.B. für eine Umverteilung des gesellschaftlichen Reichtums böte aber die Chance, dass die Bewohner_innen sozialer Brennpunkte selbst aktiv werden und sich nicht nur als Opfer begreifen.

Heute gibt es allenfalls lokal und inhaltlich begrenzte Konflikte, in denen sich die Interessen der prekär Lebenden artikulieren. Nichts desto trotz wäre es Aufgabe auch antirassistischer Politik, dort anzusetzen, eine Vernetzung anzustreben und die Betroffenen einzubeziehen. Rassistische Hetze hätte dann zumindest weniger Chancen. Eine bloß moralische Verurteilung der AfD und ihrer Wähler_innen bietet keine Perspektive.

Detaillierte Informationen zu den Wahlergebnissen: http://www.darmstadt.de/software/wahlen/KW16/STAVO/KW2016JAVA/KW2016/

Reinhard Raika
31.03.2016