"Hayir" heißt "Nein"

Kampagne gegen Erdogans Referendum auch in Darmstadt

Am 16. April stimmt die Türkei über das von Präsident Recep Tayyip Erdogan angestrebte Verfassungsreferendum ab. Konkret sollen die Wähler über Änderungen zu 18 Punkten der seit 1982 gültigen türkischen Verfassung abstimmen. Unter anderem soll die Türkei von einem parlamentarischen Regierungssystem zu einer Präsidialrepublik werden

"Hayir" bedeutet auf Türkisch Nein. Es ist ein Wort, das dieser Tage in Erdogans Türkei gar nicht gern gehört wird. Trotzdem trauen sich auch in Darmstadt viele aus der türkischen Community, es laut auszusprechen. Samstags gibt es in der Innenstadt mehrere mehrere Infostände, die für die Ablehnung der Pläne Erdogans werben. Siehsmaso traf sich mit Yasmin, Nil, Umut und Hassan, Aktiven von DIDF, um über ihre Kampagne zu sprechen.


Frage: Ihr engagiert Euch in Darmstadt für ein „Nein“ beim Referendum über ein Präsidialsystem in der Türkei am 19. April. Welche Bedeutung hat dieses Referendum für türkische MitbürgerInnen, die ja zum größten Teil schon Jahrzehnte in Deutschland leben?

Antwort: Das Referendum hat eine große Bedeutung. Es geht ja um die Zukunft der Türkei. Auch wenn die Leute schon lange hier leben, haben sie dort doch noch Verwandte oder machen dort Urlaub. Viele stehen mit einem Fuß hier und mit einem Fuß in der Türkei. Die Auseinandersetzung um das Referendum hat eindeutig negative Auswirkungen, da es zur Spaltung führt.

Frage: Ihr engagiert Euch für ein Nein. Warum?

Antwort: Wenn Erdogan beim Referendum gewinnt, bedeutet das eine Ein-Mann-Regierung. Wir wollen keine Diktatur, sondern Meinungsfreiheit und Demokratie. Erdogan will die türkische Lebensart in einem streng religiösen Sinn verändern. Eine Nation, eine Fahne, eine Religion, das ist sein Motto. Uns geht es darum, die Rechte der Frauen zu verteidigen und vor allem auch die Rechte der Kinder, denen Zwangsheiraten drohen und die in Moscheeschulen häufig missbraucht werden.

Frage: Wie sieht Eure Kampagne aus und welche Reaktionen erfahrt ihr bei Euren Ständen? Gibt es Diskussionen mit Anhängern von Erdogan?

Antwort: Wir bauen samstags einen Informationsstand in der Innenstadt auf und verteilen Informationsmaterial. Letzte Woche habe ich mich gezielt an Frauen gewandt, von denen ich dachte, sie könnten Erdogan-Anhängerinnen sein, also Frauen mit Kopftüchern, aber die Reaktionen waren sehr negativ. Sie sind falsch informiert, schauen im Fernsehen nur die Erdogan-Kanäle und glauben, nach einem Sieg Erdogans würde alles besser werden, sogar mit den Frauenrechten. Das hat mich besonders gewundert.

Frage: Welche Rolle spielen dabei die Moscheen?

Antwort: Die Haltung der Moscheen ist nicht einheitlich. Sie richten sich zum Teil auch nach den unterschiedlichen Parteien aus und es gibt auch Moscheen, die die Politik Erdogans ablehnen. Vor allem die Moscheen, die dem Moscheenverband Ditib angehören, propagieren das „Ja“. Ihre Prediger werden vom Staat eingesetzt und sollen den Standpunkt der türkischen Regierung in Deutschland vertreten.  

Frage: Es heißt immer, die Menschen aus der Türkei in Deutschland stünden treuer zu Erdogan als die Bevölkerung in der Türkei selbst. Stimmt das?

Antwort: Das stimmt nur zum Teil. Wir müssen auch sehen, dass viele Menschen mit türkischen Wurzeln mittlerweile die deutsche Staatsbürgerschaft haben und an türkischen Wahlen oder Abstimmungen nicht teilnehmen dürfen.
Aber der Apell Erdogans an nationalistische Gefühle kommt auch hier gut an. Und er ist ein guter Redner. Auch vielen Jugendlichen gefällt sein Auftreten, vor allem wenn er Großmächte oder Israel herausfordert.

Frage: Hängt die Beliebtheit Erdogans auch damit zusammen, dass Arbeitsmigranten aus der Türkei und aus anderen Staaten sich nicht richtig integriert sehen, da sie von der Politik, am Arbeitsplatz und im Alltag ausgegrenzt werden?

Antwort: Ich glaube nicht, dass das der Grund ist. Es sind vor allem die Propaganda der staatstreuen Medien und die Aktivitäten von DiTib, die hier wirken. Und DiTib verfügt über sehr viele Mittel, um Einfluss ausüben zu können. Sie spionieren auch in Deutschland türkische Oppositionelle aus. Zusammen mit dem Geheimdienst wollen sie kritische Leute einschüchtern.

Frage: Was denkt ihr, wie das Referendum ausgehen wird?

Antwort: Wir rechnen mit dem Sieg des „Nein“. Es sind nicht nur Linke, die gegen die Allmacht Erdogans sind. Auch die kurdische Bewegung und die CHP propagieren „Hayir“, die rechtsradikale MHP ist in dieser Frage gespalten und viele kleinere, z.T. auch sehr nationalistische Parteien wollen ebenfalls „Nein“ stimmen. Die Frage ist allerdings, ob die Abstimmung frei von Manipulationen stattfinden wird.

Frage: Was kommt nach der Abstimmung?

Antwort: Wenn Erdogan gewinnt, ist der Weg frei. Er wird dann der große Diktator. Das Parlament würde entmachtet, es gäbe keine Kompromisse mehr. Die Richter würden von ihm bestimmt und das Eigentum von Oppositionellen wäre nicht mehr gesichert. Es wäre ein permanenter Ausnahmezustand, und wir befürchten, er würde dann einen Weg gehen hin zur Scharia, also einer religiösen Gesetzgebung.
Es wäre allerdings nicht nur ein Sieg für Erdogan, sondern auch für das imperialistische Kapital und für die mit Erdogan verbundene Oligarchie, z.B. große Bauunternehmen, die von den Staatsaufträgen profitieren.

Wenn Erdogan nicht gewinnt, wird er das Ergebnis nicht akzeptieren. Erinnert sei an den Juni 2015, als die AKP die absolute Mehrheit verlor. Erdogan verschleppte Gespräche über eine Regierungsbildung, verfolgte die HDP und überzog die kurdischen Gebiete mit militärischem Terror. Auch Anschläge des IS waren ihm nützlich. Er konnte sich als Garant der Stabilität in einem Meer von Chaos und Terror darstellen.

Wir befürchten, Ähnliches würde sich wieder ereignen, wenn die AKP mit ihrem Vorhaben nicht durchkommt. Mit einem Sieg des „Hayir“ ist der Kampf noch nicht gewonnen. Internationale Solidarität ist danach vielleicht noch wichtiger.

02.04.2017
Schlagwörter: