Von der Digitalstadt zum „Qualityland“?

Vorsicht Satire: Marc-Uwe Kling präsentiert Ideen für die Digitalisierung
Reinhard Raika

„Digitalisierung first – (Be)Denken second (frei nach Christian Lindner)

„Digitalisierung“ ist in aller Munde. Die einen glauben, so das Paradies auf Erden schaffen zu können, in dem die Arbeit von Robotern erledigt wird, die Menschen von Maschinen bedient werden und genüsslich ihren Hobbies nach gehen können. Andere fürchten, es könne mit dem Abbau von Arbeitsplätzen eher zu einer grassierenden Armut als zu paradiesischen Zuständen kommen. Die FDP konnte mit einigen Fotos von Christian Lindner und diesem hippen Thema fast ihren ganzen Bundestagswahlkampf bestreiten und so von der Dürftigkeit des restlichen Programms ablenken.

Wen wundert es, wenn auch Darmstadt, das stolz auf den Titel „Wissenschaftsstadt“ ist, bei diesem Rummel dabei sein will. Also beteiligte sich die Stadt an einem Wettbewerb der BITKOM (Zusammenschluss von Unternehmen der digitalen Wirtschaft) und gewann den Titel „Digitalstadt“: Ein mit einem zweistelligen Millionenbetrag dotierter Preis, den die Unternehmen stifteten, die mit der digitalen Steuerung von Arbeits- und Lebensabläufen viel Geld verdienen wollen.

Die bisher präsentierten Vorhaben in diesem Zusammenhang sind alles andere als sensationell: So ist von einem Bürgerkonto die Rede, also von der Möglichkeit, kommunale Dienstleistungen online in Anspruch nehemen zu können. Darmstadt sei damit eine der ersten Kommunen in Hessen. In anderen Städten gibt es das also schon ganz ohne Digitalstadt-Brimborium. Auch von einer intelligenten Ampelschaltung ist die Rede; das ist es aber schon seit rund zwanzig Jahren. Die bisherigen Planungen scheiterten wohl daran, dass jede Straße von Querstraßen gekreuzt wird und die darauf Fahrenden auch einmal grün haben wollen und natürlich auch an jeder Kreuzung.

Darmstadt wird Digitalstadt

Die Frankfurter Rundschau beschreibt das mögliche Leben in der Digitalstadt folgendermaßen:

"Ein Tag in der Digitalstadt, wie er schöner nicht sein könnte: Die Straßenlaternen dimmen am Morgen runter, die Fensterläden des Energiesparhauses öffnen automatisch, noch im Bett die ersten News auf dem Smartphone lesen, beim Frühstück überwacht ein Armband Herzschlag und Blutdruck, der Kühlschrank meldet, wenn die Milch leer ist und bestellt sie über das Internet – am besten bei einem lokalen Händler, der sie per EBike nach Hause liefert.

Der Weg zur Arbeit wird über intelligente Ampelschaltungen ganz ohne Rotphasen gesteuert, die E-Tankstelle checkt die Reichweite des Autos und einen Parkplatz findet man per App, während man sich auf Anzeigetafeln oder per Handy über den CO2-Gehalt der Luft, die Sonneneinstrahlung und die Höhe des Geräuschpegels durch die Baustelle nebenan informiert ... Doch das ist nur eine grobe Skizze des Lebens in der Digitalstadt.

Die Visionen, die Darmstadt in den nächsten zwei Jahren ausprobieren will, sind viel umfangreicher und beziehen zahlreiche Unternehmen, wissenschaftliche Institutionen und die Bürger mit ein."

Was hier als Alltag in der Digitalstadt beschrieben wird, könnte aus einem Lehrbuch „Digitalisierung für Anfänger“ entnommen sein. Es sind genau die Punkte, die immer aufgeführt werden, wenn einem unkundigen Publikum die Vorteile der Digitalisierung genannt werden sollen. Die weitergehenden Visionen sind wie es scheint vor allem heiße Luft.

Marc-Uwe Klings „Qualityland“: Digitalisierung vollendet

Ideenreicher und konkreter wird das Thema von Marc-Uwe Kling in seinem Buch „Qualityland“ behandelt. Der durch seine Känguru-Chroniken bekannt gewordene Berliner „Kleinkünstler“ beschreibt in seinem neuen Werk auf satirische Art ein Leben, das in nahezu allen Bereichen durch Computeralgorithmen gesteuert wird.

Vielleicht könnten sich die Repräsentanten der Digitalstadt und die von ihnen beauftragten Unternehmen hier das eine oder andere als Vorbild nehmen. Hier wird der Kühlschrank entlastet. Er muss keine Bestellung abgeben, da TheShop auf Basis umfangreicher Datenbanken genau weiß, wann die Kundin oder der Kunde etwas braucht und auch was gebraucht wird. Für die Zustellung wird kein Fahrradkurier benötigt. Alles wird per sprechender Drohne geliefert. Die Menschen brauchen keine eigenen Entscheidungen treffen. Vereinfacht wird so auch die Wahl des Partners oder der Partnerin. Ein Computerprogramm findet die richtige Wahl. Schwierig wird es jedoch, wenn jemand mit der Entscheidung des Systems nicht einverstanden ist und beispielsweise einen per Drohne zugestellten rosafarbenen delphinförmigen Vibrator mangels Bedarf zurückgeben möchte. Da das Unternehmen fehlerhafte Entscheidungen nicht zugeben kann, kann dies bei Halsstarrigkeit der Belieferten zu einigen Turbulenzen führen.

Nahezu alle Tätigkeiten werden durch Roboter ausgeführt, die zum Teil Menschen zum Verwechseln ähnlich sehen. Das kann schon mal zu Verwechslungen und Missverständnissen führen.

Auch für das Problem der Ampelschaltung gibt es im Qualityland eine Lösung. Die Firma RateMe teilt die Menschen in verschiedene Level ein. Die Spannweite geht von Level 1 bis Level 100. Wer hoch eingestuft wurde, kann die Ampelschaltung manipulieren und für sich die Ampel auf Grün schalten. Wäre das nicht auch für unsere Digitalstadt eine Lösung, zumindest für die Leistungselite? Menschen über Level 16 werden niemals aufgefordert für ihre Nachbarn Pakete anzunehmen. Wessen Level unter 10 liegt, wird vom Staat als hilfsbedürftig eingestuft und gilt als nutzlos. Davon gibt es viele im Qualityland. Die Polizei kann sie jederzeit auch ohne Verdacht anhalten und durchsuchen. Die Einstufung in Level wird allerdings ständig geändert, so dass auch Nutzlose durch Selbstoptimierung in höhere Stufen aufsteigen können.

Deutlich wird in dieser Satire auch, wer unter den gegebenen Verhältnissen den größten Nutzen aus der Digitalisierung ziehen kann: Staat und Großkonzerne, die die Menschen vollständig überwachen, entmündigen und abzocken können. Solche Probleme werden in der Digitalstadt Darmstadt bisher nicht thematisiert.

Aber auch in der Digitalstadt läuft nicht alles nach Plan; es gibt auch subversive Elemente, in menschlicher und in maschineller Gestalt. Vielleicht sollten sich Darmstädter Bürger schon einmal vorbereiten. Marc-Uwe Klings Buch gibt auch hierzu Anregungen.

28.12.2017