Acht Monate in Kurdistan

Interview mit Aktivsit_innen der kurdischen Solidaritätsbewegung

Lisa Schelm[1] stammt aus Darmstadt und war hier bei den Bildungsstreiks aktiv, war im Stadtschüler*innenrat und im AStA. Heute studiert sie in Marburg. Zusammen mit Milo Marcks war sie  im letzten Jahr acht Monate in den kurdischen Gebieten Syriens und Iraks und half dort beim Aufbau gesellschaftlicher Strukturen. Siehsmaso interviewte beide zu ihren dort gemachten Erfahrungen:

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Frage: Was waren eure Motive, der kurdischen Bewegung beim Aufbau neuer Strukturen zu helfen?

Lisa: Ich bin schon länger politisch aktiv, seit ich 16 bin, habe immer in linksradikalen Gruppen gearbeitet, z. b. beim Bildungsstreik oder in der Antifa-Arbeit. Ich habe dann gemerkt, dass mir eine positive Perspektive fehlt. Man kann viel analysieren über die kapitalistische Gesellschaft, aber es fehlte der positive Gegenentwurf. Ich habe mich viel mit kommunistischen und anarchistischen Ideen beschäftigt. Als ich mich dann mit der kurdischen Bewegung beschäftigte und mit den Ideen von Abdullah Öcalan und dem demokratischen Konföderalismus, kam mir das als etwas wirklich Neues vor. Da habe ich dann eine Perspektive gesehen in dem was ich die ganze Zeit gemacht habe und eine positive Utopie formulieren können. Ich wollte mich aber nicht nur theoretisch damit beschäftigen, sondern auch praktisch mitarbeiten und dort ein Teil davon sein.

Frage: Wie kamst du dazu, dich mit den Theorien von Abdullah Öcalan zu beschäftigen? Das ist ja hier nicht so bekannt.

Lisa: Viel über Freunde, die im kurdischen Studierendenverband organisiert sind. Und als dann der Kampf um Kobane begann, hat ja die ganze Linke davon gesprochen. Da habe ich angefangen, mich noch mal intensiver damit zu beschäftigen. Dann gab es auch Soli-Komitees und ich bin immer näher mit der kurdischen Bewegung in Kontakt gekommen.

Frage: Was ist neu an den Ideen des demokratischen Konföderalismus?

Milo: Der demokratische Konföderalismus beziehungsweise allgemein das neue Paradigma der Kurdischen Bewegung nach welchen die Bewegung seit Anfang der 2000er arbeitet sind nicht komplett neue Ideen. Der demokratische Konföderalismus beruht auf den drei Grundpfeilern Geschlechterbefreiung, Ökologie und Basisdemokratie. Im neuen Paradigma der Kurdischen Bewegung, welches in den Verteidigungsschriften von Abdullah Öcalan formuliert ist, finden sich Einflüsse der verschiedensten politischen Strömungen. Der jüngste Einfluss und Basis für die Ideen eines föderalen System von Räten sind die Ideen des Anarchisten Murray Bookchin. Neu ist eben das sehr ganzheitlich gedacht wird. Politische Strömungen, die z.B. hier parallel existieren in Demokratischen Konföderalismus zusammen gedacht werden.

Frage: Was unterscheidet deiner Meinung nach die kurdischen Kräfte und die SDF in Syrien von anderen Fraktionen im Bürgerkrieg?

Milo: Die kurdische Bewegung ist die einzige Fraktion, die den Aufbau von Selbstverwaltung und Basisdemokratie betreibt. Das war eine starke Motivation im Kampf gegen die Al-Nusra-Front und gegen den Islamischen Staat. Die anderen Kräfte, die dort kämpfen sind klassische Armeen ohne politische und ideologische Bildung. Alle anderen Kräfte haben sich auch von anderen Mächten vereinnahmen lassen. Die Freie Syrische Armee von der Türkei, das Assad-Regime von Russland. Die kurdische Bewegung ist einen unabhängigen Weg gegangen.

Lisa:  Der Unterschied wird deutlich an den Arbeiten, an denen wir beteiligt waren. Wenn die UN benötigte Hilfsmittel nach Sengal liefert, geht es nicht darum, die Menschen zu ermächtigen, sie werden vielmehr in einer Abhängigkeit gehalten. Die im Irak aktive KDP von Bersani, hat die Menschen unterstützt, aber eine Abhängigkeit aufrecht erhalten. Nur die Freunde von der kurdischen Bewegung haben mit den Menschen dort zusammengelebt und hatten das Anliegen, dass die Menschen sich selbst verwalten können.

Frage: An welchen Projekten habt ihr konkret gearbeitet?

Milo: Es gibt ein Projekt, die Internationalistische Kommune, das ist ein Zusammenschluss von allen Internationalistinnen und Internationalisten, die in Rojava arbeiten. Das ist ein Reflektionsrahmen, wo über die gemachten Erfahrungen geredet werden kann, aber auch ein Ort, um sich auf die gesellschaftliche Arbeit vorzubereiten, wo Sprachunterricht und ideologische Arbeit gemacht werden kann, wo Leute an die Strukturen und an die Gesellschaft herangeführt werden. Am Anfang habe ich bei einer Rundreise die Region kennengelernt, aber auch den demokratischen Konföderalismus. Dann habe ich in der Stadt Derik Jugendarbeit gemacht, wo die selbstverwalteten Strukturen weit fortgeschritten sind. Es gibt ein Jugendzentrum, in dem gemeinsam mit den Jugendlichen ein Angebot wie Sprachkurse oder Sportveranstaltungen erarbeitet wird. So wird auch die Selbstverwaltung der Jugend umgesetzt. Später hebe ich beim Aufbau der Infrastruktur für die Internationalistische Kommune mitgearbeitet.

Lisa: Ich war drei Monate in der jungen Frauenarbeit in Sengal, einem Projekt für jugendliche Frauen. Später war ich in Jinwar das ist ein Frauendorf, das gerade in Rojava aufgebaut wird.

Frage: Was war dabei deine Aufgabe?

Lisa:  In Sengal geht es um den Aufbau generell. Die Gesellschaft ist sehr stark gezeichnet durch die Genozide an den Jesiden und der jüngste durch den IS ist nur einer davon, wenn auch ein sehr krasser. Es geht um die Aufarbeitung dieser Erfahrungen und um den Wiederaufbau der Strukturen auf einer demokratischen Basis und orientiert an den Bedürfnissen der Gesellschaft. Unsere Aufgabe war es, mit die Menschen kennen zu lernen und mit ihnen zu sprechen. Die Arbeiten der Bewegung laufen noch nicht so lange dort. Später in Sengal war es vor allem Diplomatiearbeit, also Presseartikel schreiben, Besuche betreuen und Ähnliches.

Frage: Wie war Euer Verhältnis zur einheimischen Bevölkerung? Wie habt ihr Euch verständigt?

Milo: Wir haben sehr eng mit der Bevölkerung zusammengelebt Als ich in Derik war, habe ich jede Nacht bei einer anderen Familie geschlafen, dadurch war erst mal ein sehr enger Kontakt da. Das waren meistens Familien, die in den Selbstverwaltungsstrukturen sehr aktiv sind. Sehr schwierig war am Anfang die Verständigung. Wir haben anfangs anhand kurdischer Bücher uns selbst etwas beigebracht, das meiste haben wir aber dadurch gelernt, dass wir mit den Menschen gesprochen haben, also in der Praxis gelernt haben.

Lisa: In Sengal war es etwas anders, da die Situation dort auch noch sehr unklar ist und immer noch kriegerische Auseinandersetzungen stattfinden. Viele Familien leben noch in Zelten und sind sehr arm . Aber wir haben direkt bei den Familien in Zelten nebenan gelebt. Wir wurden immer wieder zum Tee eingeladen und haben so jeden Tag fünf bis sechs Familien besucht. So kamen wir immer wieder ins Gespäch mit ganz verschiedenen Menschen.

Frage: Inwieweit werden nach deiner Meinung die basisdemokratischen Ansprüche der Bewegung auch in die Tat umgesetzt?

Milo: Ein Kernpunkt, den ich aus Rojava mitnehme, ist der Umgang mit Widersprüchen. So soll es zum Beispiel in der Theorie ein basisdemokratisches Gesundheitssystem geben mit dezentralen Gesundheitskommissionen auf Ebene der Kommunen, das sind etwa hundert Familien. Darüber dann Polikliniken auch auf sehr dezentraler Ebene. Die Realität sieht aber so aus, dass es in den großen Städten Krankenhäuser gibt und niedergelassene Ärzte, bei denen man bares Geld auf den Tresen legen muss. Es wird versucht das Stück für Stück umzubauen, aber das ist noch ein weiter Weg. Aber es kann noch nicht weiter sein, da der Krieg viele Ressourcen frisst und auch ein Mentalitätswandel stattfinden muss. Es besteht natürlich die Gefahr, dass Leute in den Strukturen eine staatliche Mentalität entwickeln und diese Positionen missbrauchen können. Deshalb muss der Aufbau neuer Strukturen auch mit Bildung einhergehen. Es gibt viele Beispiele, wo das gelingt, in arabischen oder christlichen Stadtteilen ist es jedoch schwierig, Fuß zu fassen und das System zu etablieren.

Lisa: Es gibt dort den Raum und den Willen, basisdemokratische Strukturen zu schaffen. Das heißt nicht, dass alles perfekt ist. Die Menschen haben Jahre lang damit gelebt, dass sie Politik nicht selbst mitgestalten können, sondern alles von Anderen entschieden wird. Dass die Menschen lernen, selbst Entscheidungen zu treffen, das braucht ein wenig Zeit, man sieht aber auch, dass es sich verändert.

Frage: Im politischen Selbstverständnis der kurdischen Bewegung nimmt die Stellung der Frau eine wichtige Rolle ein. Wird dies auch im Alltag so gelebt?

Lisa: Es hat sich auf jeden Fall sehr viel geändert. Was mir die Menschen erzählt haben, ich hatte ja auch lange im Frauendorf gearbeitet, ist, dass es große Veränderungen gegeben hat. Die traditionelle Rolle als Frau und Mutter hat sich durch die Teilnahme am bewaffneten Kampf geändert. Sie sehen, dass das, was immer war, nicht so bleiben muss. Trotzdem sind das sehr alte Strukturen, die erst mal aufgebrochen werden müssen. In vielen Familien existiert noch das klassische Rollenbild. Diese Veränderungen lassen sich nicht erzwingen, die müssen von der Gesellschaft entwickelt werden.

Frage: Die SDF wird gegenwärtig im Kampf gegen den IS stark von den USA unterstützt, da sie zuverlässiger scheinen als die Türkei und die mit ihr verbündeten Gruppen. Siehst du die Gefahr, dass die SDF fallen gelassen werden, wenn der Kampf gegen den IS gewonnen ist?

Lisa: Niemand geht davon aus, dass die USA ein dauerhafter politischer Partner sind. Das ist ein taktisches Bündnis, das momentan notwendig ist. Aber die USA haben natürlich kein Interesse an einem Projekt wie Rojava. Es gibt sehr viele taktische Bündnisse in der Regiion und es stellt sich immer die Frage: Was kommt danach?

Frage: Seht ihr die Gefahr, dass sich die kurdische Bewegung durch die USA vereinnahmen lässt, so wie ihr es auch für anderen Akteure beschrieben habt?

Milo: Bei der kurdischen Bewegung sehe ich keine so große Gefahr. Ich sehe eher, dass es Auswirkungen auf die Gesellschaft hat, durch den Eindruck, den die USA auf die Bevölkerung machen, durch Nachrichten oder Waffenlieferungen. Dass im Stadtbild US-Soldaten auftauchen, das macht etwas mit den Menschen, das unterstützt das Bild von den USA als Schutzmacht. Die Bewegung ist sich dessen bewusst und versucht zu erklären, was wirklich dahintersteckt. Es ist im Prinzip ein Angriff auf das System des demokratischen Konföderalismus.

Frage: Habt ihr Vorstellungen, wie es weitergehen kann, wie es zu einer Lösung des Konflikts in Syrien kommen kann?

Milo: Das Ziel der kurdischen Bewegung ist es momentan, auf diplomatischer Ebene weiterzukommen. Es ist davon auszugehen, dass der IS bald aus Syrien verschwunden ist und es dann eine Pattsituation zwischen dem Regime und der Bewegung, der SDF entsteht. Die Nordsyrische Föderation, es sind ja nicht mehr nur kurdische Gebiete, versucht Teil von internationalen Verhandlungen in Astana oder in Genf zu werden. Der Vorschlag der Bewegung ist ein föderales System, bei dem die Nordsyrische Föderation Teil des syrischen Staates wird, sich aber selbst verwalten kann. Entscheidend aber ist, dass die Werte der Revolution und die Selbstverwaltungsstrukturen erhalten bleiben. Es laufen auch Verhandlungen mit dem Regime, um die Grenzen, wie sie jetzt sind, festzuschreiben

Lisa: Die Perspektive des Kampfes wird jetzt stark auf die diplomatische Ebene gezogen, aber ich denke, das die Idee des demokratischen Konföderalismus, die Idee, wegen der wir auch dort waren und die wir unterstützen, sehr viele Menschen verbinden kann. Es geht nicht mehr nur um die Kurdinnen und Kurden, es geht um die Bevölkerung, die in der Region lebt unabhängig von Religion und auch von Staatsgrenzen. Die Staatsgrenzen im Nahen Osten wurden ja sehr künstlich gezogen und es geht um eine andere Form des Zusammenlebens und die schafft der demokratische Konföderalismus. Der Befreiungskampf der Bewegung wird auch weiterhin eine wichtige Rolle spielen und ich habe großes Vertrauen dazu, dass dabei etwas herauskommt, womit die Meschen gut leben können.

[1]             Der richtige Name ist der Redaktion bekannt

09.01.2018
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