Das reiche Hessen – und seine dunkle Seite

Viele arme Senior*innen in Darmstadt

„Das Erfreuliche zuerst: Die Armut in Deutschland ging von 2017 auf 2018 zurück. Es ist mit minus 0,3 Prozentpunkten zwar ein nur leichter Rückgang, auch bleibt die Armut mit 15,5 Prozent in Deutschland auf hohem Niveau, doch ist es zumindest der erste Rückgang seit 2014.“ So beginnt der Armutsbericht 2019 des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes. Doch diese Entwicklung trifft keineswegs für alle Bevölkerungsgruppen und Bundesländer zu.

Als einkommensarm gelten nach gängiger - auch EU-weit anerkannter – Definition, diejenigen Personen, die über ein gesamtes Nettoeinkommen (inklusive Wohngeld, Kindergeld, Kinderzuschlag, anderer Transferleistungen oder sonstiger Zuwendungen) unter 60 Prozent des mittleren Einkommens verfügen. Im Jahr 2018 sind dies bei Alleinstehenden monatlich 1035 Euro, bei einem Paar ohne Kinder 1533 Euro, bei Alleinerziehenden mit einem Kind unter 14 Jahren 1346 Euro im Monat.

Im Verlauf über 10 Jahre macht der Armutsbericht bei der Gruppe der Rentner*innen die negativste Entwicklung aus. Deren Armutsquote stieg von 2008 auf 2018 von 12,1% auf 16,1%, um 33,1% an. Lagen die Rentner*innen über lange Jahre hinweg unter der durchschnittlichen Armutsquoten, so kehrte sich 2014 die Richtung um. „Rentner*innen gehören seitdem zu den Gruppen mit erhöhtem Armutsrisiko – bei zunehmender Tendenz.“ Auch bei Kindern unter 18 Jahren stieg die Armutsquote in den letzten 10 Jahren von 18,4% auf 20,1%. Arbeitslose, Alleinerziehende, Kinderreiche oder Menschen mit nur unzureichenden Bildungsabschlüssen sind die Hauptrisikogruppen der Armut mit Quoten zwischen 30% und 57%. Auch Menschen mit Migrationshintergrund sind überdurchschnittlich von Armut betroffen, die Armutsquote stieg von 2010 auf 2018 von 26,2 % auf 27,2%.

Armut in Hessen steigt an

Hessen liegt bei der Reichtumsquote in Deutschland an zweiter Stelle. Doch es gibt zunehmend eine dunkle Seite in Hessen.

Viele Jahre lang war Hessen eines der Bundesländer mit der niedrigsten Armutsquote. Die Entwicklung in den letzten 10 Jahren ist allerdings so schlecht wie sonst nur in Nordrhein-Westfalen. In Hessen lag 2014 die Armutsquote mit 12,7% noch unter Bundesdurchschnitt, sie stieg aber überdurchschnittlich an auf 15,8% im Jahr 2018. „Mit einer Steigerung von 24,4 Prozent hat sich Hessen damit zu einem Bundesland entwickelt, dessen Armut im Vergleich zum Rest der Republik leicht über dem Durchschnitt liegt.“ Zu den ärmsten Regionen in Hessen gehört die Region Limburg/Gießen/Marburg. Mit einer Armutsquote von 19.5 % zu den zwölf ärmsten Regionen in Deutschland. Der Anteil der Armen im im bevölkerungsreichen Rhein-Main-Gebiet stieg von 2008 bis 2018 um 2,7 Prozentpunkte auf 14,1%, in der Region Starkenburg sogar von 10,7% auf 15,6%. Dies ist die höchste Steigerungsrate unter den Regionen in Deutschland!

Nach Auskunft des Hessischen Sozialministeriums haben 2018 50.600 Rentner*innen in Hessen die Grundsicherung im Alter bezogen. Ihre Zahl stieg in den letzten 10 Jahren um mehr als 40% an.

Viele arme Rentner*innen in Darmstadt

In der Deutschland-Studie 2019 des ZDF werden aktuell die Anteile der Senior*innen erfasst, die die Grundsicherung für das Alter erhalten. Bei den 401 erfassten Städten und Landkreisen liegen die Städte, und besonders auch hessische Städte, ganz hinten. In Darmstadt erhalten 5,9 % der Senior*innen die Grundsicherung, Darmstadt kommt damit auf den Rang 384 von 401. Noch schlechter schneiden Wiesbaden mit 6,8% (Rang 395) und Frankfurt mit 8,8% (Rang 400) ab. Insgesamt geht in Hessen die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter auseinander.

Aktuell nutzen in Deutschland 1,65 Mill. Menschen die Tafel, 10 % mehr als in 2018. Besonders dramatisch ist der Anstieg von 20% auf 430.000 bei den Senior*innen. „Völlig inakzeptabel sei auch der Anstieg der Kinder und Jugendlichen bei den Tafeln“, so die Tafel Deutschland in einer Pressemitteilung. Insgesamt liegt ihr Anteil bei 30 Prozent der Tafel-Nutzer. 

Allein in Darmstadt liegt die Zahl der Tafel-Nutzer bei etwa 2.300, die für insgesamt fast 4.000 Bedürftige die Lebensmittel mitnehmen.Die Zahl der Rentner*innen, die die Tafel nutzen ist von 2014 auf 2017 stets angestiegen und liegt jetzt bei knapp 400.

 

Der Paritätische Gesamtverband schlägt zur Armutsbekämpfung folgendes Sofortprogramm vor:

Sofortige Erhöhung der Regelsätze von derzeit 424 auf 582 Euro und Einsetzung einer unabhängigen Kommission zur Neubestimmung des Existenzminimums – insbesondere für Kinder;

Einführung von Freibeträgen auf Alterseinkünfte in der Altersgrundsicherung und Einführung einer Mindestrente für langjährig Versicherte;

Einführung einer bedarfsdeckenden und einkommensorientierten Kindergrundsicherung und Schaffung eines Rechtsanspruchs auf Teilhabe im Kinder- und Jugendhilfegesetz;

Erhöhung des gesetzlichen Mindestlohnes auf 13 Euro;

sanktionsfreier Umbau der Hartz IV-Leistungen zu einem echten Unterstützungssystem inklusive eines sozialen Arbeitsmarktes und sozialpädagogischer Hilfen;

Umbau der Pflegeversicherung durch Abschaffung oder deutliche Reduzierung der Eigenanteile der Pflegebedürftigen;

kostenfreie bedarfsdeckende gesundheitliche Versorgung auch für Menschen mit niedrigem Einkommen.

Auch die Linke in Hessen kritisiert in ihrer Presseerklärung „ Armut in Hessen steigt weiter an und ist eine Schande für so ein reiches Land“ diese Entwicklung: „Wer Armut ernsthaft bekämpfen will, muss große Vermögen und Erbschaften stärker besteuern und umverteilen. Die LINKE fordert eine Vermögensteuer und Reform der Erbschaftssteuer. Außerdem muss der Mindestlohn auf 13 Euro erhöht werden, weil nur so die Menschen vor Altersarmut geschützt werden.“

 

Erhard Schleitzer
24.12.2019
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