OB Partsch unterschreibt Resolution „Bürgermeisterinnen und Bürgermeister gemeinsam gegen Antisemitismus“

Resolution verwendet umstrittenen Antisemitismus-Begriff

Antisemitismus ist in unserer Gesellschaft ein weitverbreitetes Phänomen. Das betrifft nicht nur Attentate wie in Halle oder Angriffe auf jüdischen Einrichtungen. Menschen, die sich z.B. durch das Tragen einer Kippa zum jüdischen Glauben bekennen, werden geschlagen und auf Schulhöfen ist das Wort „Jude“ zu einem Schimpfwort geworden.

Es ist daher zu begrüßen, wenn auch die politisch Verantwortlichen in Städten und Gemeinden dies zur Kenntnis nehmen und dagegen vorgehen wollen. Wie das Darmstädter Echo berichtete unterschrieb Oberbürgermeister Partsch zu diesem Zweck eine Erklärung von "Bürgermeisterinnen und Bürgermeistern gegen Antisemitismus". Allerdings hat sich in letzter Zeit um den Begriff des Antisemitismus in der Zivilgesellschaft eine Diskussion entwickelt, die in der von OB Partsch unterschriebenen Resolution nicht berücksichtigt wird.

Dabei geht es vor allem um den „israelbezogenen Antisemitismus“ und die Frage, ob durch eine diesbezüglich sehr weit gefasste Definition die Diskussions- und Meinungsfreiheit eingeschränkt wird. Die Erklärung der „Bürgermeisterinnen und Bürgermeister“ ist hierbei eindeutig. Dort heißt es: „Wir, (…) stufen auch solche Taten als antisemitisch ein, die aufgrund einer persönlichen, manchmal auch politisch motivierten, Meinung über die Politik und Existenz des Staates Israel ausgeführt, gerechtfertigt und entschuldigt werden“.[1]

Diese Diskussion nahm Fahrt auf, nachdem der Bundestag im Herbst 2017 eine Resolution zur Verurteilung der BDS-Kampagne verabschiedete. BDS steht hierbei für „Boykott, Desinvestition und Sanktionen“, Maßnahmen, die gegenüber dem Staat Israel verhängt werden sollen, um so eine Abkehr von der Besatzungspolitik in den palästinensischen Gebieten zu bewirken. Die Argumente der BDS-Kampagne werden als antisemitisch bezeichnet und Aufrufe zum Boykott israelischer Waren werden mit dem „Kauft nicht bei Juden“ der Nazis in Verbindung gebracht. Der Bundestag fordert in dieser Resolution, Gruppen mit Verbindungen zum BDS nicht finanziell zu unterstützen und ihnen keine Räume für Veranstaltungen zur Verfügung zu stellen. Länder, Städte, Gemeinden und alle öffentlichen Einrichtungen werden aufgefordert, diesem Beispiel zu folgen. (Die AfD wollte forderte sogar ein Verbot der BDS-Bewegung.)

Doch geht der Bundestag in seiner Resolution noch weiter: Er „verurteilt alle antisemitischen Äußerungen und Übergriffe, die als vermeintliche Kritik an der Politik des Staates Israel formuliert werden, tatsächlich aber Ausdruck des Hasses auf jüdische Menschen und ihre Religion sind, …"

Der Bundestag beruft sich dabei auf die „Arbeitsdefinition der Internationalen Allianz für Holocaust-Gedenken“(IAHR). Diese Arbeitsdefinition setzt ihren Schwerpunkt ebenfalls auf den „israelbezogenen Antisemitismus“ (sieben von elf aufgelisteten Beispielen für Antisemitismus beziehen sich auf die Politik des Staates Israel). Der Beschluss des Bundestages verschärft diese Definition jedoch, indem der folgende Satz wegelassen wird: „Allerdings kann Kritik an Israel, die mit der an anderen Ländern vergleichbar ist, nicht als antisemitisch betrachtet werden.“

„Neuer McCarthysmus“ und Hexenjagd durch Antisemitismus-Resolution des Bundestages?

In Folge dieses Beschlusses verabschiedeten viele gesellschaftliche Institutionen und Verbände, so z.B. die Hochschulrektorenkonferenz oder der DFB, ähnlich lautende Erklärungen. Schon bald nach der Entschließung des Bundestages wurde in Publikationen wie der FAZ, der Süddeutschen oder auch der Frankfurter Rundschau die Befürchtung geäußert, dadurch könne die Diskussions- und Meinungsfreiheit in unzulässiger Weise eingeschränkt werden. Und in der Tat gab es darauf hin vielerorts einen Boykott gegen israelkritische Veranstaltungen, denen Räume verweigert wurden. (Das geschah in Darmstadt mehrmals auch ganz ohne BDS-Bezug.) Doch richteten sich die Sanktionen auch gegen den Auftritt von Wissenschaftler*innen, die sich kritisch zur israelischen Besatzungspolitik geäußert hatten.

Angesichts dieser Entwicklung warnten Liberale in Israel vor einer Hexenjagd. Die taz schreibt über sie: „Sie hegen wenig Sympathien für die Boykottbewegung, sind aber alarmiert, weil sie in der professionell inszenierten Anti-BDS-Kampagne des Ministeriums für strategische Angelegenheiten eine rechtsautoritäre Formatierung der Öffentlichkeit und einen Angriff auf die liberale Demokratie in Israel erkennen. Die Netanjahu-Regierung bereitet völkerrechtswidrig die Annektierung eines Teils des Westjordanlandes vor – die Anti-BDS-Aktionen der Regierung sollen Kritik an der Besatzung als illegitim diffamieren.“ (taz, 30.9.2019)

Ein Beispiel von vielen für repressive Maßnahmen als Folge der BDS-Resolution ist Peter Schäfer. Er war bis Juni 2019 Leiter des jüdischen Museums in Berlin. Anfang 2019 wurde er von Israels Regierungschef Nethanjahu für die Ausstellung „Welcome to Jerusalem“ kritisiert, da sie zu einseitig die palästinensische Sicht auf den Nahostkonflikt darstelle. Als er später in einem Tweet einen Artikel empfahl, der sich kritisch mit der BDS-Resolution des Bundestages befasste, begann eine Kampagne nicht nur des israelischen Staates, sondern auch des Zentralrats der Juden gegen ihn und er sah sich zum Rücktritt gezwungen. Der frühere israelische Botschafter Schimon Stein und der israelische Historiker Moshe Zimmermann warnten vor diesem Hintergrund in einem Gastbeitrag im Tagesspiegel vor einer Beschneidung der Meinungsfreiheit in Deutschland.

Im September 2019 sollte die britisch-pakistanische Autorin Kamila Shamsie den Nelly-Sachs-Preis erhalten. Dieser wurde ihr aber wieder aberkannt, als Kontakte zur BDS-Bewegung bekannt wurden. Im Sommer 2010 schließlich sollte Achille Mbembe die Eröffnungsrede des Kulturfestivals Ruhrtriennale halten. Doch wurde er ausgeladen, weil auch er Verbindungen zum BDS hat und die israelische Besatzungspolitik mit dem südafrikanischen Apartheitsregime vergleiche. Es ließen sich noch viele Beispiele für die Ausgrenzung israelkritischer Positionen anführen. Der Publizist und Erziehungswissenschaftler Micha Brumlik sprach angesichts solcher Vorkommnisse von einem »neuen McCarthyismus«.

Forderung nach neuer Definition des Antisemitismus

Dies veranlasste im Herbst letzten Jahres eine Vielzahl liberaler Kulturschaffender und -institutionen zu einer Initiative, die für sich in Anspruch nimmt, den Artikel 5.3 des Grundgesetzes zu verteidigen. In ihrem Aufruf "Initiative GG 5.3 Weltoffenheit" heißt es: „Die historische Verantwortung Deutschlands darf nicht dazu führen, andere historische Erfahrungen von Gewalt und Unterdrückung moralisch oder politisch pauschal zu delegitimieren. Konfrontation und Auseinandersetzung damit müssen gerade in öffentlich geförderten Kultur- und Diskursräumen möglich sein. Vor diesem Hintergrund bereitet uns auch die Anwendung der BDS-Resolution des Bundestages große Sorge. Da wir den kulturellen und wissenschaftlichen Austausch für grundlegend halten, lehnen wir den Boykott Israels durch den BDS ab. Gleichzeitig halten wir auch die Logik des Boykotts, die die BDS-Resolution des Bundestages ausgelöst hat, für gefährlich. Unter Berufung auf diese Resolution werden durch missbräuchliche Verwendungen des Antisemitismusvorwurfs wichtige Stimmen beiseitegedrängt und kritische Positionen verzerrt dargestellt.

Kritiker*innen des Bundestagsbeschlusses und der Arbeitsdefinition der IAHR haben nun im März 2021 mit der „Jerusalemer Erklärung zum Antisemitismus“ eine neue Definition des Antisemitismus vorgelegt, die vermeiden soll, dass der Antisemitismus-Vorwurf zur Verhinderung israelkritischer Stellungnahmen missbraucht wird. Neben Beispielen, die per se antisemitisch seien, werden auch Beispiele genannt, die sich kritisch mit dem Staat Israel auseinandersetzen, aber nicht per se als antisemitisch angesehen werden. Dazu gehört die Kritik des Zionismus, also dem Streben nach einem rein jüdischen oder jüdisch dominierten Staat. Die Verfasser schreiben hierzu: „Es ist nicht per se antisemitisch, Regelungen zu unterstützen, die allen Bewohner:innen „zwischen dem Fluss und dem Meer“ volle Gleichberechtigung zugestehen“, ob in zwei Staaten, einem binationalen Staat, einem einheitlichen demokratischen Staat, einem föderalen Staat oder in welcher Form auch immer“. Auch sei die BDS-Initiative nicht zwangsläufig als antisemitisch einzuschätzen: „Boykott, Desinvestition und Sanktionen sind gängige, gewaltfreie Formen des politischen Protests gegen Staaten. Im Falle Israels sind sie nicht per se antisemitisch.“ Bei diesen Beispielen komme es immer auf den Kontext an. Bei der Anwendung dieser Leitlinien auf konkrete Situationen seien immer Urteilsvermögen und Sensibilität gefordert.

Mittlerweile haben sich mehr als 200 Wissenschaftler*innen, die zu Antisemitismus und jüdischer Geschichte forschen, dieser Definition angeschlossen. Der Holocaust-Forscher Amos Goldberg sagt in einem Interview mit der Frankfurter Rundschau über die Motivation der Unterzeichnenden: „Sie haben unterschiedliche Meinungen zu BDS und anderen Themen in Bezug auf Israel und Palästina. Aber wir alle sind besorgt, wie Kritik an der israelischen Besatzung und auch am Zionismus mit Antisemitismus-Verdacht belegt und abgeblockt wird. Zuallererst, weil Antisemitismus eine wirkliche Gefahr ist und keine Phantasie. Aber ihn zu benutzen, um Israel vor Kritik zu schützen, schwächt die Bekämpfung des Antisemitismus aus vielerlei Gründen.“

Kein Interesse an Diskussion?

Problematisch an der Bürgermeister*innen-Resolution ist auch, dass darin ausschließlich der Antisemitismus kritisiert wird, nicht aber der Rassismus in allen seinen Facetten. Die Jerusalemer Erklärung stellt hierzu fest, dass „Antisemitismus einige spezifische Besonderheiten aufweist, der Kampf gegen ihn jedoch untrennbar mit dem allgemeinen Kampf gegen alle Formen rassistischer, ethnischer, kultureller, religiöser und geschlechtsspezifischer Diskriminierung verbunden ist.“ Amos Goldberg sagt im Interview mit der FR: „Wenn die IHRA-Definition den Antisemitismus gewissermaßen alleinstellt, lässt sich schwerlich die Hand zu anderen Gruppen, wie etwa Moslems und Palästinensern, ausstrecken, um sich gemeinsam gegen Rassismus und Antisemitismus zu stellen.“

Die Jerusalemer Erklärung könnte zum Anlass genommen werden, das Thema Antisemitismus unter wissenschaftlichen und politischen Aspekten neu zu diskutieren. Mit der Unterzeichnung der Resolution der Bürgermeister*innen zeigen die Stadtoberen von Darmstadt, dass sie diese Diskussionen um einen möglichen Missbrauch des Antisemitismusbegriffs nicht aufgreifen und somit die Problematik der Diskussions- und Meinungsfreiheit ignorieren. Die Formulierung des Absatzes zum israelbezogenen Antisemitismus (s.o.) lässt im Gegenteil nicht den geringsten Spielraum für eine Kritik an Menschen- und Völkerrechtsverletzungen durch den israelischen Staat.

 

[1] Wörtlich genommen müsste demnach eigentlich jede Form von Aktion mit Bezug zu Israel als antisemitisch eingeschätzt werden, denn auch eine proisraelische Kundgebung wird „aufgrund einer persönlichen, manchmal auch politisch motivierten, Meinung über die Politik und Existenz des Staates Israel ausgeführt.“ Gemeint sind aber bestimmt nur israelkritische Meinungen.

 

Reinhard Raika
07.04.2021