"Bürgerliche Mitte" und Nazis

Darmstadt 1931: Im "Volksstaat Hessen" erste Versuche einer Koalition

Im November 1931 gab es Landtagswahlen im "Volksstaat Hessen" mit der Hauptstadt Darmstadt. Die Koalition aus SPD, dem katholischen Zentrum und der liberalen DDP verlor dabei ihre Parlamentsmehrheit. Besonders SPD und DDP hatten viele Stimmen verloren. Gewonnen hatten hingegen NSDAP und KPD. Danach gab es Verhandlungen zwischen Zentrum und Nazis, die schon sehr weit fortgeschritten waren. Abgebrochen wurden sie erst, als Pläne der NSDAP zu einem Putsch bekannt wurden.

Hierzu veröffentlichen wir nachfolgend einen Artikel von Leo Schwarz aus der jungen welt vom 13.11.2021:

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Bürgerliche Sammlung

Im November 1931 sollte in Hessen die Generalprobe für eine »schwarz-braune« Koalition in Berlin stattfinden

Von Leo Schwarz

Für Landtagswahlen im »Volksstaat Hessen« hatten sich bis 1931 nicht viele Menschen jenseits der Landesgrenzen interessiert. In diesem Jahr der zugespitzten ökonomischen, sozialen und politischen Krise war das anders: Die Wahl am 15. November 1931 wurde als Gradmesser für die politische Reichweite der Nazibewegung nach deren elektoralem Durchbruch bei der Reichstagswahl im September des Vorjahres mit Spannung erwartet. Das Land, in dem nach 1918/19 immer die SPD, das katholische Zentrum und die liberale DDP die Regierung gebildet hatten, stand in dem Ruf, mit seinem Landtagswahlergebnis das der jeweils nächsten Reichstagswahl recht präzise vorwegzunehmen. Zu dem Nachfolgestaat des ehemaligen Großherzogtums Hessen mit der Hauptstadt Darmstadt gehörte damals noch das heute rheinland-pfälzische Rheinhessen mit Mainz, nicht aber jener große Teil des heutigen Bundeslandes Hessen mit den großen Städten Frankfurt und Kassel, der seinerzeit die preußische Provinz Hessen-Nassau bildete.

Spießgesellen des Faschismus

Aufmerksamen Beobachtern war im Herbst 1931 nicht entgangen, dass in dem kleinen Teilstaat die Generalprobe für eine politische Kombination vorbereitet wurde, die Reichskanzler Heinrich Brüning auch im Berliner Reichstag, wo das Notverordnungsregime bislang von der SPD toleriert worden war, anbahnte: eine »schwarz-braune« Kooperation, also die offene parlamentarische Zusammenarbeit von katholischer Zentrumspartei und NSDAP. Brüning, der neue Reichsinnenminister Wilhelm Groener sowie Kurt von Schleicher, Chef des Ministeramtes im Reichswehrministerium, planten, die SPD als parlamentarische Stütze der Notverordnungspolitik durch die NSDAP zu ersetzen. Und zwar nicht, um die Partei, wie das konservative Historiker bis heute zurechtlügen, »zu zähmen«, sondern um auf diese Weise den weiteren autoritären Staatsumbau, für den die SPD nicht verwendbar war, forcieren zu können. Brüning hatte am 10. Oktober 1931 direkt und vertraulich mit Hitler über eine solche Perspektive gesprochen. Uneinig waren sich Brüning, Groener und Schleicher bzw. die von ihnen vertretenen Einfluss- und Interessengruppen in der Frage, in welchem Umfang der Nazipartei in diesem Zusammenhang realer Einfluss auf die staatliche Exekutive eingeräumt werden sollte.

Insbesondere die SPD-Führung beobachtete die »Hessenwahl« deshalb mit großer Unruhe: Mit den sicher zu erwartenden Stimmenverlusten konnte sie leben; eine echte Gefahr aber war für sie der drohende Bankrott der gegen erhebliche innerparteiliche Widerstände durchgesetzten »Politik des kleineren Übels«, also der Tolerierung Brünings mit dem Argument, dadurch werde eine noch weiter gehende Verschiebung der Regierungspolitik nach rechts bzw. »eine sozusagen auf friedlichem Wege zustande kommende bürgerlich-nationalsozialistische Koalition« (Rudolf Breitscheid, Vorsitzender der SPD-Reichstagsfraktion, beim Leipziger Parteitag 1931) verhindert. Sie fürchtete, wie es in Gegen den Strom, dem Blatt der KPD-Opposition, kurz nach der hessischen Wahl hieß, den »letzten und schlüssigen Beweis dafür, dass die Sozialdemokratie durch ihre Tolerierung des Zentrums nicht eine antifaschistische Kraft toleriert hat, sondern die zukünftigen Spießgesellen und direkten Verbündeten des Faschismus«.

Da sie damit rechnete, dass das politisch-ideologische Fundament der Tolerierungspolitik nach dieser Wahl wesentlich instabiler sein würde als ohnehin schon, begann die SPD-Führung unmittelbar vor dem Wahltag, die Distanz zum Kabinett Brüning zu betonen und Scheinbedingungen für die weitere Stützung des Notverordnungskanzlers zu formulieren. »Breitscheid warnt! Schluss mit der Mordpest – sonst Schluss mit der Tolerierung«, betitelte der Vorwärts am Wahlsonntag den Bericht über einen Wahlkampfauftritt Breitscheids in Darmstadt. Breitscheid hatte dort gesagt: »Unsere Tolerierungspolitik sollte dazu dienen, die Republik zu schützen. Sie kann aber nicht bedeuten, dass die von uns tolerierte Regierung das Treiben der SA-Leute und der Nationalsozialisten sichert.« Außerdem versicherte er ausdrücklich – und das war in der Tat ein neuer Tonfall –, dass die SPD »ein eventuell beabsichtigtes Verbot der KPD«, über das wenige Tage später eine Konferenz der Innenminister beriet, nicht mittragen würde.

Das Ergebnis der Wahl am 15. November war, um noch einmal das KPO-Blatt zu zitieren, »eine drastische, alarmierende Illustration der Tatsache, dass der Faschismus in Deutschland unmittelbar vor den Toren der Macht steht«. Sie brachte bei einer hohen Wahlbeteiligung von 82,3 Prozent die erwarteten großen Stimmengewinne für die NSDAP: Die Nazipartei erhielt 291.183 Stimmen; das entsprach einem Anteil von 37,1 Prozent (fast genau der Stimmenanteil, den sie bei der Reichstagswahl im Juli 1932 erhalten sollte) und war mehr als eine Verdoppelung der Stimmenzahl, die die Nazis bei der Reichstagswahl 1930 in Hessen erhalten hatten. Der Wählerzustrom zu den Faschisten speiste sich in der Hauptsache aus ehemaligen Wählern der bürgerlichen Mitte-/Rechts-Parteien: DDP/Staatspartei, DVP, DNVP und die ideologisch mit der DNVP verwandte Landvolkpartei waren nur noch Splitterparteien. In diesem Lager blieb nur das Zentrum mit seiner konfessionell gebundenen Wählerschaft und 14,3 Prozent der Stimmen stabil.

Starke Verluste im Vergleich zur vorherigen Landtagswahl erlitt die SPD, die nur noch auf 21,4 Prozent kam – ein Minus von über elf Prozentpunkten. Für die KPD stimmten 106.790 Wähler (13,6 Prozent); das waren Zugewinne, die aber die Verluste der SPD nicht voll auffingen. Zudem hatte die KPD knapp 15.000 Wähler an die KPO verloren, während die wenige Wochen zuvor gegründete linke SPD-Abspaltung SAP auf lediglich rund 8.000 Stimmen kam. Zu betonen ist aber, dass im Vergleich mit dem hessischen Ergebnis der Reichstagswahl vom September 1930 der »rote« Wählerblock (SPD, KPD, KPO, SAP) in der Substanz erhalten blieb (41,6 Prozent 1930, 37,9 Prozent 1931), während der bürgerliche – abgesehen vom Zentrum – in diesem Zeitraum nahezu vollständig von der NSDAP aufgesogen wurde, die faktisch die Rolle einer bürgerlichen Sammlungspartei spielte.

»Blutpläne von Hessen«

Mit diesem Ergebnis hatten NSDAP und Zentrum in dem 70 Sitze zählenden Landtag eine Mehrheit von 37 Mandaten. An der Spitze der 27köpfigen NSDAP-Fraktion stand der Gerichtsassessor Werner Best – nach 1933 einer der konzeptionellen Köpfe der Gestapo und zweiter Mann hinter Reinhard Heydrich im Sicherheitsdienst (SD) der SS. Best verhandelte alsbald mit dem Reichstagsabgeordneten und hessischen Zentrumsvorsitzenden Friedrich Bockius über ein gemeinsames Regierungsprogramm und die Verteilung der Posten in einer Landesregierung. Die Nazis zeigten sich dabei, wie der von Bockius laufend informierte Brüning später anerkennend vermerkte, »außerordentlich entgegenkommend«.

Das sorgfältig eingefädelte Manöver scheiterte aber. Zehn Tage nach der Landtagswahl wurden vorgefertigte Bekanntmachungen und Erlasse der hessischen NSDAP-Führung für den Fall einer Machtübernahme im Zuge der Niederschlagung eines komplett fiktiven, als Vorwand für Repressivmaßnahmen gegen die Arbeiterbewegung aber lange vor dem Aufstieg der NSDAP vielfach erprobten »kommunistischen Aufstandes« bekannt, die Best im Sommer 1931 ausgearbeitet hatte. »Widerstand wird grundsätzlich mit dem Tode bestraft«, hieß es darin unter anderem. Diese »Boxheimer Dokumente«, die dem von Wilhelm Leuschner geführten hessischen Innenministerium von einem NSDAP-Landtagsabgeordneten, der sich mit Best überworfen hatte, zugespielt worden waren, machten deutlich, was von dem von der Parteileitung der NSDAP immer wieder bekräftigten »Standpunkt strengster Legalität« zu halten war. Ihren Inhalt fasste der Vorwärts am 26. November unter der Überschrift »Die Blutpläne von Hessen« zusammen: »Regieren heißt für diese Leute, andere erschießen lassen.« Am 30. November 1931 musste der widerstrebende, selber weit rechts stehende Oberreichsanwalt Karl Werner ein Hochverratsverfahren gegen ihre Urheber einleiten.

Auf das am 8. Dezember übergebene »Mindestprogramm« der hessischen NSDAP-Landtagsfraktion für eine gemeinsame Regierungsbildung antwortete das Zentrum aber sogar in dieser Situation nicht direkt ablehnend, sondern hinhaltend und ausweichend. Im Januar 1932 brachen die von Tag zu Tag selbstbewusster auftretenden Nazis die Verhandlungen ab. Die hessische Landesregierung mit dem Sozialdemokraten Bernhard Adelung an der Spitze blieb ohne eigene Mehrheit im Landtag noch bis zum März 1933 geschäftsführend im Amt. Als das Hochverratsverfahren gegen Best im Oktober 1932 eingestellt wurde, war die Vorbereitung der faschistischen Diktatur in Deutschland in die letzte und abschließende Phase eingetreten. In der spielten parlamentarische Kombinationen in der Provinz keine Rolle mehr. An sie zu erinnern, bleibt aber wichtig – zumal in einer Zeit, in der weiterhin unverdrossen die alte Lüge verbreitet wird, nicht die »bürgerliche Mitte«, sondern die KPD habe zusammen mit den Nazis die »Weimarer Demokratie« zerstört.

Leo Schwarz
20.11.2021