„Gewerbenflächenbedarf“ der Stadt Darmstadt

Ein bestelltes Gutachten

Die Stadt Darmstadt hat einen „Masterplan“ beschlossen, nach dem riesige landwirtschaftliche Flä­chen im Westen Arheilgens und im Osten Wixhausen in Gewerbegebiete umgewandelt werden sol­len. Insgesamt hat sie dafür 230 Hektar vorgesehen (s. PDF in der Anlage „Untersuchungsgebiete des Masterplans“).

Ein von der Stadt bestelltes Gutachten sollte eine Rechtfertigung für diese Gewerbe-Expansionsplä­ne liefern – und erfüllt diesen Auftrag vollends: Darin wird für die nächsten 19 Jahren ein angebli­cher „Bedarf“ an Gewerbeflächen auf bislang unbebautem Gelände von 190 ha behauptet. Rechnet man die nötigen, aber im Gutachten übergangenen naturschutzrechtlichen Ausgleichsflächen für die damit einhergehende Versiegelung hinzu, so würden die 230 Masterplan-Hektar nicht einmal ausrei­chen. Wie begründen die „Gutachter“ ihren „Bedarf“?

Wie ein Bedarf unbebauter Flächen erfunden wird

„Bedarf ist allgemein der als Mangel erlebte Wunsch eines Wirtschaftssubjekts nach dem Erwerb von Gütern und Dienstleistungen, deren Besitz, Gebrauch, Nutzung oder Verbrauch die Befriedigung von Bedürfnissen erwarten lässt,“ sagt uns Wikipedia. Deshalb fragen wir konkreter: Welche „Wirtschaftssubjekte“ haben diesen „Bedarf“ an Flächen angemeldet und welche Bedürfnisse soll das befriedigen?

Es hätte nahe gelegen, die Darmstädter Gewerbebetriebe als „Wirtschaftssubjekte“ danach zu fragen, welche Flächen Sie in Zukunft benötigen, aber auch: welche Flächen sie bereits bevorratet haben, jedoch brach liegen las­sen und welche Flächen sie in Zukunft aufgeben werden.

Nichts von all dem haben die Gutachter getan. Sie haben lediglich die protokollierten Verträge über Gewerbegrundstücksverkäufe der letz­ten 10 Jahre dahingehend ausgewertet, welche Flächen für Gewerbe erworben wurden. Und diese Auswertung haben sie einseitig auf unbebaute Grundstücke begrenzt, also Flächenrecycling und Flächenaufgabe schlicht ausgeblendet. Das hat zu dem Ergebnis geführt, dass in den letzten 10 Jah­ren 43,5 ha unbebaute Flächen zur Gewerbeansiedlung den Eigentümer gewechselt hätten.

Diesen Flächenverbrauch – der bemerkenswerterweise innerhalb der bebauten Stadt stattgefunden hat – verlängern sie dann einfach in die Zukunft und kommen so zum Ergebnis, dass in den nächsten 19 Jahren weitere 83 ha unbebaute Flächen zur Gewerbeansiedlung benötigt würden.

Der Trick mit dem „exponentiellen“ Wachstum

Da aber mit die­sen 83 ha die vom Masterplan geforderten 230 ha bei weitem nicht erreicht werden, wenden die „Gutachter“ einen Trick an: Sie behaupten, die Beschäftigtenzahlen hätten sich in den letzten zehn Jahren in Darmstadt „exponentiell“ entwickelt. Einen Nachweis legen sie dafür nicht vor (s. PDF in der Anlage „ Beschäftigungsentwicklung in Darmstadt“), verlängern aber auch die angeblich „expo­nentielle“ Entwicklung in die Zukunft und kommen so zu dem Rechenergebnis, dass in den nächs­ten 19 Jahren 22.200 zusätzliche Arbeitsplätze in Darmstadt entstehen würden – davon allein 14.000 im verarbeitenden, produzierenden Gewerbe. Das ist einigermaßen abwegig, weil das weit mehr als die Duplizierung der gesamten Firma Merck (mit Abstand größter industrieller Arbeitgeber in Darmstadt) bedeuten würde.

Ihren fiktiven Beschäftigtenzuwachs übertragen die Gutachter dann auf den ‚nur‘ linear extrapolierten Flächenbedarf, drücken also auch diesem eine exponentielle Dy­namik auf und kommen nur so auf die eingangs genannte Zahl, dass statt 83 ha aus der linearen Ex­trapolation der Flächenverkäufe 190 ha Gewerbeflächen ‚benötigt‘ würden. Zweifellos gab es in Darmstadt einen Beschäftigtenzuwachs, der aber im Trend linear und keineswegs „exponentiell“ verlief.

Betriebe werden vom Umland in die Stadt geholt

Auf den Gedanken, dass sich dieser Beschäftigtenzuwachs bereits in den 43,5 ha neuer Ge­werbeflächen niedergeschlagen hat und daher nicht als ergänzender Verstärkungsfaktor zum zweiten Mal ins Spiel gebracht werden kann, kommen die „Gutachter“ nicht. Nur vage wird angedeutet, dass sich die Firma Döhler stark vergrößert hat und Alnatura neu angesiedelt wurde. Die Neuan­siedlung des Batterieproduzenten Akasol wird gar nicht erwähnt. Dabei können nur solch konkrete Vorgänge Hinweise auf die realen Entwicklungen liefern.

Die Firma Döhler hatte seit langem ihren Wunsch angemeldet, sich im Weststadt-Quartier vergrößern zu wollen. Nach Aufgabe der US-Mili­tärflächen hat sie darin groß eingekauft und ihre Firmenfläche verdreifacht. Dazu hat wesentlich beigetragen, dass die gesamte Logistik, die bislang in großen Hallen bei Gernsheim untergebracht war, nach Darmstadt verlagert wurde.

Auch Alnatura und Akasol haben ihre Betriebe aus dem Um­land nach Darmstadt in die Konversionsflächen der Weststadt verlagert bzw. sich dort neu gegrün­det. Das folgte aber keinem „Bedarf“, sondern dem Handeln des „Wirtschaftssubjekts“ Stadt Darmstadt, die seit Übernahme durch die Grünen einen strikten Wachstumskurs mit offensiver Fir­menansiedlung betreibt, der jeglichem Nachhaltigkeitsgedanken spottet.

Das Gutachten unterschei­det für die letzten zehn Jahre in seiner Analyse der Kaufverträge 41 Verkäufe von kleineren Flächen (im Durchschnitt je Verkauf nur 0,6 ha) von sehr wenigen, nämlich nur 6 Verkaufsfällen von „Roh­bauland“, die mehr als einen Hektar betrafen und sich insgesamt auf 19 ha summierten. Allein die Döhler-Erweiterung ist daran mit ca. 8 ha beteiligt und macht damit bereits mehr als 40 % der An­käufe von gewerblichem „Rohbauland“ im Betrachtungszeitraum aus. In Darmstadt ist kein weite­res Unternehmen bekannt, das derartige Expansionspläne hegt. Die Döhler-Erweiterungsfläche taugt daher als singuläres Ereignis nicht als Ausgangsgröße für eine Trendverlängerung.

Döhler-Erweiterung als vollflächige Versiegelung

Die Döh­ler-Erweiterung taugt aber sehr wohl als abschreckendes Beispiel für das, was auf den Äckern Wix­hausens und Arheilgens droht, wenn dort (laut Gutachten) allein 14.000 Industriearbeitsplätze ent­stehen sollen (s. PDF in der Anlage „Erweiterung der Firma Döhler“). Oberbürgermeister Partsch hatte Befürchtungen ob der ge­werblichen Versiegelung um Arheilgen und Wixhausen so zu beschwichtigen versucht: „So manche biodivers geplante Gewerbefläche sei am Ende vielleicht ein größerer Rückzugsort für Pflanzen und Tiere als die Monokulturen auf landwirtschaftlichen Flächen“ (DE vom 26.05.2021). Die Döhler-Erweiterung, die voll in die Verantwortung des Grünen Oberbürgermeisters und Wirtschaftsförde­rungsdezernenten fällt, offenbart hingegen die Realität einer vollflächigen Versiegelung mit beto­nierten Abstellflächen, Lagerhallen und Produktionsgebäuden, die weder mit Fotovoltaik noch mit Dachoder gar Fassadenbegründung dekoriert sind. Mit all dem hier verbauten Beton, dessen Ze­mentkomponente für 7 % der Treibhausgasemissionen verantwortlich ist und mit den sich aufhei­zenden vollversiegelten Flächen liefert die Döhler-Erweiterung ein Maximum an Klimaschädlich­keit.

Immer mehr Berufspendler?

Ein wichtiges „Wirtschaftssubjekt“ sind die Bewohner Darmstadts. Haben sie einen „Bedarf“ an Gewerbeflächen bzw. konkreter: einen Bedarf an den darauf entstehenden Arbeitsplätzen? Eine Sonderauswertung des städtischen Statistikamtes (Statistische Berichte 02/2019) analysierte: Etwa 32.000 Personen, die in Darmstadt sozialversicherungspflichtig arbeiten, leben auch dort. Das be­deutet im Umkehrschluss, dass über 70.000 sozialversicherungspflichtig Beschäftigte, die in Darm­stadt arbeiten, zur Arbeit einpendeln. Das entspricht einer Einpendlerquote von 68,9 %. Diese ist im letzten Jahrzehnt weitgehend stabil geblieben.

Die Bewohner Darmstadts haben also keinen „Be­darf“ an zusätzlichen Arbeitsplätzen, wenn bereits der größte Teil der vorhandenen Arbeitsplätze nur aus dem Umland besetzt werden kann. Bei der trotz massivem Wohnungszubau in den letzten Jahren stabil gebliebenen Pendlerquote würden 22.200 zusätzliche Beschäftigte in den neuen Ge­werbegebieten über 15.000 zusätzliche Berufspendler bedeuten. Was das für die bereits überlasteten Straßen Darmstadts bedeutet, kann sich jeder Anwohner an diesen Straßen ausmalen.

Der Wert landwirtschaftlicher Flächen in Darmstadts Norden - auch Landwirtschaft ist Gewerbe

Die Bewohner Darmstadts haben hingegen einen elementaren Bedarf an Lebensmitteln, die möglichst im nahen Umfeld erzeugt werden sollten. Auch deren Produktion ist „Gewerbe“, das fraglos große Flächen benötigt: Acker- und Grünland. Insofern herrscht aber ein extremer Flächenmangel:

Für den ORF-/3sat-Film „Die Ernährungsfalle“ wurde in der Nähe von Wien ein sogenanntes „Durchschnittsfeld“ angelegt, das den durchschnittlichen Flächenbedarf zur Ernährung eines Bewohners von Deutschland oder Österreich aufzeigen soll. Danach benötigt Jeder ein 4.370 m² großes Feld (rund 0,44 ha) für seine Ernährung. 2/3 unserer Lebensmittel beziehen wir von Flächen aus dem Ausland, von denen der größte Teil für die Produktion von Sojakraftfutter für die europäische Fleischerzeugung okkupiert ist. Diese Flächen entstehen zunehmend im brandgerodeten Regenwald.

Nun ist nicht jegliche Viehwirtschaft schädlich. Denn beweidetes Grünland ist einer der wichtigsten Kohlenstoff-speicher, die wir haben. Der Viehbesatz muss aber auf die Grünlandflächen abgestimmt sein (das sah die vor Jahren zugunsten der Massentierhaltung abgeschaffte „Flächenbindung“ vor). Eine insofern „passende“ Viehwirtschaft haben wir in Darmstadt auf den Biohöfen „Oberfeld“ und „Eichwaldhof“. Im Darmstädter Norden hingegen wird vor allem Gemüse angebaut. Insofern reichen bereits durchschnittlich 58 m² pro Person aus, um uns zu ernähren.

Ganz können wir auf Flächen im Ausland nicht verzichten, solange wir nicht auf Oliven, Reis, Sesam, Kakao, Kaffee oder Gewürze verzichten wollen. Wenn wir aber durch mäßigen Verbrauch von Fleisch und Milchprodukten auf den größten Flächenteil der „Auslandsproduktion Milch- und Viehwirtschaft“ verzichten würden, dann verblieben noch immer rund 2.400 m² oder 0,24 ha Bedarf an landwirtschaftlichen Flächen pro Person (s. PDF in der Anlage „ „Durchschnittsfeld“).

Die Landesstatistik Hessens weist für Darmstadt landwirtschaftliche Flächen von 2.335 ha aus. Bei aktuell 161.409 Einwohnern in Darmstadt (Stand 30.06.2021) können die landwirtschaftlichen Flächen im Gemarkungsgebiet Darmstadt rechnerisch nur knapp 10.000 Darmstädter ernähren. Oder anders herum: Jeder Darmstädter kann im Durchschnitt nur knapp 17 % seiner Ernährung von diesen Flächen im Nahbereich beziehen. Alles andere muss herangeschafft werden.

Daraus lässt sich nur schließen, dass die kostbarste „gewerbliche“ Nutzung, die sich für die Flächen westlich von Arheilgen und östlich von Wixhausen denken lässt, die landwirtschaftliche Nutzung ist.

Projektgruppe Arheilgen, Kranichstein, Wixhausen
13.12.2021