Vergessene Geschichte von Erzhausen

Starker Widerstand gegen die Nationalsozialisten Anfang der dreißiger Jahre

Am 30.1.2023 jährt sich zum neunzigsten Mal die Ernennung Adolf Hitlers zum Reichskanzler durch den rechtskonservativen Reichspräsidenten Hindenburg. Vor diesem Hintergrund fand bei den Naturfreunden Egelsbach-Erzhausen ein Vortrag über die Ereignisse Anfang der dreißiger Jahre in Erzhausen statt. „(Es) muß jedoch zunächst die Feststellung stehen, dass keine politische Gruppierung den Nationalsozialismus so grundsätzlich abgelehnt hat, wie die Arbeiterbewegung“ (Peukert) (1).  Die Gemeinde Erzhausen steht dabei als Beispiel für ein Dorf, das von der Arbeiterschaft und seinen Organisationen geprägt war.

Die Arbeiterbewegung in Erzhausen

1930 hatte Erzhausen ca. 2200 Einwohner, dessen Erwerbstätige zu 56,2 % in Industrie und Handwerk, 22,3% im Handel u.Verkehr und zu 8,2% in Landwirtschaft und Forstwirtschaft tätig waren. Die Arbeiterbewegung dominierte die politische Situation. Im Jahr 1919 erhielt die SPD bei den Wahlen zur Nationalversammlung bei einer Wahlbeteiligung von 89,1% einen Stimmenanteil von 84,4%. Die Nationalsozialisten spielten bis Ende der zwanziger Jahre praktisch keine Rolle in Erzhausen. Die politische Situation in der Arbeiterbewegung differenzierte sich mit dem Entstehen der KPD. Bei den Reichstagswahlen von 1928 erhielten bei einer Wahlbeteiligung von 80,5%: SPD 67,6%, KPD 10,4% und NSDAP 0,5%. Der Rest verteilte sich auf die bürgerlichen Parteien.

Die Weltwirtschaftskrise ab 1928 veränderte die soziale Lage auch in Erzhausen dramatisch: von ca 800 Arbeitern waren 600 arbeitslos. Die politischen Auseinandersetzungen innerhalb der Arbeiterbewegung verschärften sich und führten zu einer Stärkung der KPD auf Kosten der SPD. Bei der Reichstagswahl 1932 mit 92,2% Wahlbeteiligung erhielten die SPD 46% und die KPD 25,6% der Stimmen. Die Krise führte aber auch zu einer massiven Stärkung der NSDAP mit 33,9% Stimmenanteil. Die Parteien der Arbeiterbewegung dominierten aber weiterhin die Situation in Erzhausen, während die bürgerlichen Parteien immer mehr abnahmen bis ihre Wähler 1933 endgültig zur NSDAP wechselten.

„Während die ältere historische Literatur, insbesondere aber Schulbücher und Publizistik, immer die scheinbare Übereinstimmung zwischen Wachstum der Arbeitslosigkeit und Wachstum der NSDAP- Wählerschaft hervorhoben, ist heute unbestritten, dass sich die Anhängerschaft der NSDAP vorwiegend aus den Mittelschichten und nur zu einem geringen Teil aus der Arbeiterschaft zusammensetzte. Der Block der für die KPD und SPD abgegebenen Arbeiterstimmen (…) blieb bis 1933 im wesentlichen stabil“ (Peukert). Die galt auch für Erzhausen. Bedingt durch die massiven staatlichen Repressionen gegen die Parteien der Arbeiterbewegung und dem Terror der SA kann von der Reichstagswahl 1933 nicht von einer demokratischen Wahl gesprochen werden.

Mit Hilfe verschiedener Verordnungen schränkte Reichspräsident Hindenburg die legalen Informations- und Arbeitsmöglichkeiten insbesondere der KPD immer mehr ein, so z.B. 1932 mit der „Verordnung zur Sicherung des inneren Friedens“ und nach dem Reichstagsbrand mit der „Verordnung zum Schutz von Reich und Staat“ , womit praktisch alle demokratischen Grundrechte aufgehoben wurden. Damit wurden insbesondere der KPD alle politischen Betätigungen, Versammlungen, Demonstrationen, Zeitungen und Flugblätter verboten, obwohl sie als Partei noch in den Reichstagswahlen von 1933 angekreuzt werden konnte. Ihre Stimmen wurden aber nicht mehr gewertet. Zudem wurde die SA als faschistische Schlägertruppe zur bewaffneten Hilfspolizei ernannt, womit sie polizeiliche Befugnisse erhielt.

Trotz alledem erhielten die Parteien der Arbeiterbewegung in Erzhausen bei den Reichstagswahlen 1933 weiterhin zusammen die Mehrheit der Stimmen: bei einer Wahlbeteiligung von 94,6% erhielt die SPD 40%, die KPD 23,8%. Die NSDAP hatte mit 33,9 % ihr Wahlziel weit verfehlt, obwohl Reichspräsident Hindenburg am 30.1. Adolf Hitler zum Reichskanzler ernannt hatte. Die politische Situation in Erzhausen war geprägt von einer hohen Zahl von Versammlungen und Demonstrationen von SPD und KPD mit großer Beteiligung der Bevölkerung. Allerdings entstand keine nennenswerte gemeinsame Einheitsfront der Arbeiterorganisationen gegen den Nationalsozialismus, obwohl diese in Redebeiträgen auf Versammlungen gefordert worden war. Stattdessen prägten unterschiedliche Einschätzungen der politischen Situation das Bild. So rief die SPD bei der Neuwahl des Reichspräsidenten 1932 zur Wahl Hindenburgs auf. Die Losung der SPD lautete : „Schlagt Hitler – wählt Hindenburg“, während die KPD mit der Losung „Wer Hindenburg wählt, wählt Hitler. Wer Hitler wählt, wählt den Krieg“ zur Wahl ihres Kandidaten Ernst Thälmann aufrief. Dass in Erzhausen vermutlich auch vielen Sozialdemokraten die Politik der SPD-Führung unbegreiflich war, zeigt das Abstimmungsergebnis: für Hindenburg stimmten 38,9% der Wähler, für Thälmann 36,7 %. Die Unterschiede zu den Wahlergebnissen in den Reichstagswahlen zeigen, dass offensichtlich viele sozialdemokratische Wähler lieber den Kandidaten der KPD wählten als dem Wahlaufruf der SPD-Führung zu folgen. Auch dieses Erzhäuser Wahlergebnis unterschied sich deutlich von dem Ergebnis auf Reichsebene .

Die politische Mobilisierung zeigte sich in Erzhausen auch durch die hohe Zahl der Teilnehmer an den vielen Versammlungen und Demonstrationen, die auch nach der Ernennung von A. Hitler zum Reichskanzler anhielten. In kurzen Zeitabständen organisierten SPD und KPD Versammlungen mit bis zu 500 Teilnehmern, die Eiserne Front der SPD mobilisierte bis zu 1000 Teilnehmer auf Kundgebungen. Für ein Dorf mit 2200 Einwohnern eine erstaunliche Zahl, auch wenn sicherlich auch Teilnehmer von den umliegenden Gemeinden kamen.

Starke Repression durch das NS-Regime

Der Repressionsdruck gegen die Organisationen der Arbeiterbewegung war auch in Erzhausen hoch. Mit zahlreichen Hausdurchsuchungen, Beschlagnahme von Flugblättern und Zeitungen, Verhören und Verhaftungen wurde die legale Betätigung immer mehr unterdrückt. Nach den Rufen „Freiheit“ und „Nieder mit Hitler“ und „Arbeiter bewaffnet euch“ wurde der SA Sturm aus Darmstadt eingesetzt und zahlreiche Bürger verhaftet. In einem Prozess vor einem einem Sondergericht in Darmstadt wurden mehrere Bürger zu Gefängnisstrafen verurteilt. Diese Sondergerichte wurden auf der Grundlage der Verordnung zum „Schutz von Reich und Staat“ als politische Gerichte eingerichtet, in denen die Rechte der Angeklagten weitgehend außer Kraft gesetzt wurden.

In Folge des „Ermächtigungsgesetzes“ vom 24.3.33, in welchem die gesetzgebende Gewalt an Adolf Hitler übergeben wurde, wurden schließlich in Erzhausen die 18 existierenden Vereine aufgelöst oder verboten. Ihre Kassen und Materialien wurden eingezogen. Der sozialdemokratische Bürgermeister Lorenz wurde am 3.4.33 des Amtes enthoben und ein Statthalter der Nazis ohne Wahl eingesetzt . Nach dem Verbot der Gewerkschaften am 2.5.33 wurde auch die SPD am 22.6.33 endgültig verboten. Die legalistische Strategie der SPD-Führung „ An unserer Legalität werden sie scheitern“ war gescheitert. Auch die KPD unterschätzte die Durchsetzungskraft der Nazis. Bis Ende August 1933 entstanden auf Reichsebene 65 KZ`s mit rund 45.000 Häftlingen, vornehmlich aus der Arbeiterbewegung.

„Auch nach 1933 konnte das NS-Regime entgegen dem propagandistischen Augenschein in der industriellen Arbeiterschaft keine aktive Unterstützung erlangen. Die geheimen monatlichen Lageberichte der Gestapostellen malten besonders für die Krisenmonate des Sommers 1934 und des Herbstes 1935 ein düsteres Bild „vorrevolutionärer“ Zustände.“ (Peukert). Erst die massive Aufrüstung zum Krieg und die Einführung der Wehrpflicht beseitigte die hohe Arbeitslosigkeit. Von einer widerstandslosen Zustimmung zum Gedankengut der Nationalsozialisten und dem faschistischen System kann angesichts des enormen Repressionsdrucks des faschistischen Machtapparates nicht gesprochen werden, auch wenn diese Legende bis heute gepflegt wird.

Es war die Arbeiterbewegung die, trotz aller politischen Schwächen, entgegen dem Bürgertum den größten und verlustreichsten Widerstand gegen die Nationalsozialisten geleistet haben. Bis heute wird dies in der offiziellen Erinnerungskultur ignoriert.

 

(1) Peukert, Detlev: Der deutsche Arbeiterwiderstand gegen das Dritte Reich", Herausgegeben von der Gedenkstätte Deutscher Widerstand Berlin.

Die Recherchen über Erzhausen stammen aus der Wissenschaftlichen Hausarbeit "Die Gemeinde Erzhausen zu Beginn der Dreißiger Jahre und in der Phase der NS-Machtergreifung" von Sabine Albrecht an der TH-Darmstadt 1988.

Thomas Heyer
29.12.2022
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