Am 26. April hatten die 63 streikenden Lastwagenfahrer aus Georgien und Usbekistan in Gräfenhausen allen Grund zum feiern. Ihr Streik, der seit dem 18.März 2023 andauerte und von Seiten der polnischen Spedition mit brutalen Mitteln bekämpft wurde, ging erfolgreich zu Ende. Mit Unterstützung der Europäischen Transportarbeiter Gewerkschaft aus den Niederlanden wurde eine Vereinbarung mit dem Firmeninhaber Lukasz Mazur erzielt, wonach die Fahrer die letzten ausstehenden Gelder von rund 100.000 € auf ihre Konten überwiesen bekommen. Insgesamt waren den LKW-Fahrern zu Beginn des Streiks fast 300.000 € vorenthalten worden. Ein Grund für das Einlenken des polnischen Spediteurs soll sein, dass ein Kunde eine Schadensersatzforderung in Höhe von 100.000 € stellte, wenn seine Lieferung nicht bis zum 1. Mai erfolge. Der Weg zu diesem beispiellosen Erfolg war lang und nervenaufreibend.
Große Solidarität unter den Fahrern
Der Eigentümer des polnischen Firmenkonsortiums Agmaz, Imperia und Imperija verfügt über 900 LKWs, die fast ununterbrochen quer durch ganz Europa fahren. Die Fahrer hatten sich in dem mehrwöchigen Streik nicht durch Androhung von Gewalt, noch durch andere Spaltungsversuche auseinander dividieren lassen. Mazur hatte nach den ersten Wochen des Streiks einem Teil der Fahrer Geld angeboten, aber nicht die vollständige Summe der ausstehenden Gelder, anderen Fahrer gar nichts. Die Fahrer waren sich einig, dass sie so lange streiken werden, bis alle von ihnen die ausstehenden Gelder erhalten haben. Um ihr solidarische Haltung zu bekräftigen, setzten sie dem Unternehmer Mazur ein Ultimatum bis zum 21.4., um die ausstehenden Gelder auszuzahlen. Mazur reagierte darauf nicht, nahm auch keine Telefongespräche entgegen. Am selben Tag organisierte Anna Weirich vom DGB-Projekt „Faire Mobilität“ zusammen mit Edwin Atem aus den Niederlanden von der Europäischen Transportarbeiter Gewerkschaft eine Pressekonferenz auf der Raststätte vor dem Lastwagenkonvoi und sie berichteten den zahlreich vertretenen Medienvertretern über die Hintergründe und den Ablauf des Streiks. Die Gewerkschaftsvertreter betonten, die Situation der usbekischen und georgischen Fahrer sei kein Einzelfall, sondern werfe ein Schlaglicht auf die Situation vieler Fahrer aus den östlichen Ländern. Die weitgehend rechtlose Situation der Fahrer sei so schlimm, dass man hier von Menschenhandel reden könne.
Fast 100.000 Euro an Löhnen standen lange Zeit aus
Die genaue Summe der einzelnen ausstehenden Löhne und Tagesgelder der Fahrer stand in großen Buchstaben auf den Planen ihrer Lastwagen. Auf einem Lastwagen vor dem Ort der Pressekonferenz war die Gesamtsumme der ausstehenden Gelder aufgelistet: 97.585 Euro. Ausgangspunkt des Streiks war, dass die Fahrer aus Usbekistan und Georgien seit zwei Monaten kein Geld mehr von ihrem polnischen Spediteur erhalten haben. Deshalb hatten sie sich mit ihren Lastwagen auf dem Rastplatz Gräfenhausen zum Streik verabredet. Die LKW-Fahrer, die außer ihrer Landessprache meist nur russisch sprechen, berichten, sie hätten in Polen einen Vertrag mit AGMAZ unterschrieben, wo sie davon ausgingen, es sei ein Arbeitsvertrag. Später stellte es sich heraus, dass sie eine Anmeldung als Selbstständige unterschrieben haben.
Die „modernen Nomaden“ der europäischen Autobahnen
Als „Scheinselbständige“ bekommen sie keine Überstunden, keine Spesen bezahlt. Sozialabgaben werden von AGMAZ nicht entrichtet und sie müssen Schäden an ihrem LKW selbst bezahlen, die die Firma ihnen mit überhöhten Preisen anrechnet. Verhängte Bußgelder und Strafen müssen die Fahrer aus eigener Tasche bezahlen. Die Firma AGMAZ zieht den Fahrern im Jahr 450 € ab für eine angebliche private Krankenversicherung. Als sich ein Lastwagenfahrer auf der Raststätte ein Bein brach und zur Behandlung in die medizinische Notaufnahme ging und seine angebliche Krankenversicherung vorlegte, wurde diese dort nicht anerkannt und zur Behandlung eine Kaution bzw. Vorschuss von 2.500 € verlangt. Nur durch finanzielle Hilfe der Gewerkschaft konnte der Fahrer die notwendige Behandlung bekommen.
Die Fahrer sitzen 10-13 Stunden täglich auf ihrem LKW, die Wochenenden verbringen sie in Raststätten oder abgelegenen Firmengeländen und wohnen in ihrem Lastwagen. So sind sie monatelang quer durch Europa unterwegs. Ein LKW-Fahrer berichtet, sein Kind sei vor zwei Jahren geboren worden, er habe es aber noch nicht sehen können.
Schockiert sind die Fahrer besonders darüber, wie die Firma AGMAZ mit den drei Todesfällen umging die sich während der LKW-Fahrten ereigneten. Die ausstehenden Gelder der toten Fahrer wurden nicht vollständig an die Familie ausgezahlt und die Firma kümmert sich um nichts weiteres. Die Abhängigkeiten von den Unternehmen sind für Fahrer aus Nicht-EU-Ländern deshalb noch einmal besonders höher, da mit dem Arbeitsverhältnis auch ihr Aufenthaltsstatus im Schengen-Raum verbunden ist. Wenn sie entlassen werden, müssen sie den Schengen-Raum verlassen.
Einschüchterung und brachiale Gewalt
Wenn die LKW-Fahrer ihre Ansprüche beim Arbeitgeber geltend machen wollen, berichten sie von Bedrohungen und Einschüchterungen. Ein Fahrer wollte in Polen seine Lohnrückstände einfordern, wurde dann aber mit einem zerbrochenem Kiefer in einem Krankenhaus eingeliefert. Die Vorgänge auf dem Rastplatz in Gräfenhausen am 5. April sorgten dann aber für internationales Aufsehen. Firmeninhaber Mazur versuchte zusammen mit dem Leiter eines Security-Unternehmens samt 15 martialisch auftretenden Männern sich gewaltsam Zutritt zu den abgestellten Lastwagen zu verschaffen. Zeitgleich anwesende Vertreter des DGB beschrieben diese Männer als „paramilitärischen Schlägertrupp“, gekleidet in schwarze Uniformen mit schusssicheren Westen, die an die die Einsatzkräfte des SEK erinnerten. Das Securityunternehmer Rutkowski-Patrol war mit seinem Einsatztruppe in einem gepanzertes Fahrzeug zu den Streikenden vorgefahren und nahm Stellung ein. Südhessische Gewerkschaftssekretäre kamen zum Glück zeitgleich an und wurden von den Fahrern laut begrüßt, was den Einsatztrupp erst mal stark irritierte. Pech der Rutkowski Patrol aber war, dass ihr gepanzertes Gefährt von der Polizei bereits auf der Autobahn beobachtet wurde und sie somit auch schnell vor Ort an der Raststätte war. Die DGB-Sekretäre informierten die Polizei über den Streik und die friedlichen Absichten der LKW-Fahrer und erklärten dem Einsatzleiter die Absichten des Schlägertrupps und die drohende tätliche Auseinandersetzung. Die Polizei nahm den Firmenchef Mazur, den Security-Boss Rutkowski und 14 weitere schwarz uniformierte Personen fest und führte sie unter Beifall der LKW-Fahrer in Handschellen ab. Die Fahrer waren ein solches engagiertes Eingreifen der Polizei aus ihren Ländern nicht gewohnt. Durch das gemeinsame Wirken von DGB und Polizei konnte das Streikrecht geschützt werden. Das zeitliche Zusammentreffen war ein glückliche Fügung. Leicht hätte alles ganz anders ausgehen können.
Die vorläufig Verhafteten der Einsatzgruppe wurden dann freigelassen und nach Polen zurücktransportiert. Die Staatsanwaltschaft ermittelt nun gegen den Fuhrunternehmer und das Security-Unternehmen wegen schweren Landesfriedensbruch, Nötigung und Verstoß gegen das Kriegswaffenkontrollgesetz. Der Einsatztrupp besteht aus polnischen Ex-Polizisten für „besondere Aufgaben“, die z. B. in Tschechien einen polnischen Mann, der einer Straftat verdächtigt wurde, festgesetzt und nach Polen gebracht haben. Bereits 2012 war die Rutkowski-Patrol in Berlin aufgefallen, als eine versuchte Entführung bzw. „Rückführung“ einer jungen Polin nach Polen scheiterte. Rutkowski und Mazur gelten in Polen als politisch gut vernetzt. Rutkowski selbst war Mitglied des polnischen Parlaments Sejm und 2003 bis 2004 auch Abgeordneter des Europäischen Parlaments. Die beiden waren zusammen mit einem rechtsgerichteten privaten polnischen Fernsehteam nach Gräfenhausen angereist, dass nun aber doch nicht über ihre geplanten „heldenhaften“ Taten berichten konnte. Mazur gibt dazu gerne mit seinem Privatautos an, einem für 5 Millionen € nachgebauten McLaren mit 320 km/h oder mit seinem Lamborghini, mit dem er sich sinnigerweise zusammen mit seinem LKW-Fuhrpark für Facebook ablichten lässt.
Internationale Öffentlichkeit hergestellt
Mit ihrem martialichen Auftreten gelang Mazur und der Rutkowski-Patrol ein klassisches Eigentor – und das Volley. Die Bilder von dem gepanzerten Gefährt gingen durch die Medien. Die Situation der LKW-Fahrer auf europäischen Autobahnen war ein großes Thema.
Überaus wichtig war die Unterstützung der LKW-Fahrer durch die Gewerkschaften. Edwin Atem aus den Niederlanden von der Europäischen Transportarbeiter Gewerkschaft sowie Anna Weirich vom DGB-Projekt „Faire Mobilität“ und Funktionäre des örtlichen DGB unterstützten von Anfang an den Streik und waren oft vor Ort, genauso wie die katholische Betriebsseelsorge. Sie betrieben unentwegt eine intensive Pressearbeit. Zahlreiche Berichte über den Streik erschienen nicht nur in der südhessischen Presse, die Resonanz war europaweit, sogar in Südkorea erklärten sich 5000 Fahrer solidarisch.
Die Fahrer erhielten zahlreiche Lebensmittelspenden sowie viele Geldspenden. Der Arzt Gerhard Trabert sorgte für die medizinische Betreuung. Die Fahrer betonten immer wieder, wie sie sich über die zahlreiche Unterstützung freuten und dass es ihnen Kraft gab, den Streik geschlossen weiter zu führen.
Politiker*innen aus Hessen und Rheinland-Pfalz besuchten ebenfalls die streikenden LKW-Fahrer und bekundeten ihre Unterstützung. Auch Vertreter*innen des Europaparlaments erschienen in Gräfenhausen und versprachen sich in der EU für mehr wirksame Kontrollen der geltenden Vorschriften im Transportsektor einzusetzen. Noch nie wurde in den Medien so ausführlich über über die Arbeitsbedingungen der LKW-Fahrer aus den östlichen Ländern berichtet und noch nie hatten sich zuständige Politiker*innen so deutlich für eine Verbesserung deren Arbeitsbedingungen ausgesprochen. Entscheidend ist, dass jetzt Taten folgen.
Erste Wirkungen zeigen sich schon bei den Auftraggebern von Mazur. So soll DHL, das zu den Großkunden zählt, ihre Zusammenarbeit mit den Firmen von Mazur aufgekündigt haben. Bei anderen Großkunden, wie VW und Bosch, heißt es, „da ist die IG Metall dran.“
Gegen die Firma AGMAZ wurde in Polen eine Razzia durchgeführt und die polnische Transportpolizei ermittelt nun wegen einiger Dutzend schwerer und sehr schwerer Verstöße gegen polnisches und EU-Recht.
Einhaltung der EU-Vorschriften!
In der EU gelten für internationalen LKW-Verkehr eine Reihe von Verordnungen, die zuletzt 2020 mit dem so genannten Mobilitätspaket aktualisiert wurden. Die wichtigsten Neuerungen sind:
- Fahrer dürfen ihre wöchentliche Ruhezeit nicht mehr im Lkw verbringen,
- Fahrer haben das Recht zur Rückkehr zum Standort des Unternehmens für eine Wochenruhezeit von mindestens 45 Stunden innerhalb eines Zeitraums von vier Wochen,
- Das Verkehrsunternehmen muss die Arbeit der Fahrer*innen entsprechend planen und dokumentieren sowie die Unterlagen auf Verlangen vorlegen,
- Die Fahrzeuge müssen spätestens nach acht Wochen an den Firmensitz zurückkehren (DGB, Faire Mobilität).
Diese Vorschriften werden von europäischen Speditionen bei LKW-Fahrern aus Nicht-EU-Ländern häufig umgangen und bieten außerdem noch viele Schlupflöcher durch die Einführung verschiedener Transportarten. Dies wirkt sich auch auf die Anwendung der Entsenderichtlinien aus, die zudem in vielen EU-Ländern noch nicht in nationales Recht umgesetzt sind.
Viele Speditionen aus den osteuropäischen Ländern sind im Auftrag großer Logistikfirmen aus Deutschland und Frankreich unterwegs. Sie beschäftigen die Fahrer zu osteuropäischen Mindestlöhnen um die 500 € oder legen ihnen Verträge als Scheinselbständige vor.
Zur Einhaltung der EU-Vorschriften finden so gut wie keine Kontrollen statt. Das Bundesamt für Logistik und Mobilität (früher Bundesamt für Güterverkehr) führt in der Regel keine Überprüfungen zur Befolgung der EU-Vorschriften durch. Werden LKW-Fahrer unterbezahlt, so müssen sie ihre Ansprüche individualrechtlich durchsetzen, was für die meisten mit ihren Sprachproblemen in einem fremden Land unmöglich ist. Sollten sie trotzdem ihre Ansprüche gegenüber dem Arbeitgeber durchsetzen, wird ihnen unverhohlen mit Kündigung gedroht, was für die Fahrer aus Nicht-EU-Ländern bedeutet, dass sie unmittelbar aus der EU ausgewiesen werden. Deshalb werden von den osteuropäischen Speditionen immer mehr Arbeitskräfte aus östlichen Staaten angeworben. Der Lohndruck auf die Fahrer insgesamt steigt und die Beschäftigten unterschiedlicher Herkunft werden gegeneinander ausgespielt.
Wie geht es weiter für die LKW-Fahrer?
Ein für die LKWFahrer wichtiger Inhalt in der Vereinbarung vom 26.4. ist, dass die Firma Mazur keine weiteren zivil- und strafrechtlichen Schritte gegen die streikenden LKW-Fahrer einleitet und eingereichte Klagen zurückgenommen werden. Nach körperlicher Bedrohung sollen auch juristische Verfolgungen ausgeschlossen werden. Die Fahrer verpflichten sich dafür, wenn das Geld auf ihre Konten überwiesen wurde, die Schlüssel für den LKW zu übergeben. Bei ihrem Arbeitgeber Mazur wollen sie auf keinen Fall weiter arbeiten, sie fürchten dort gewaltsamen Aktionen ausgesetzt zu sein. Viele kehren nun erst mal in ihre Heimatländer zurück, einige sollen bereits Arbeitsangebote von anderen Speditionen erhalten haben.
Politische Konsequenzen
Eine Gesetzgebung nutzt nichts, wenn sie nicht kontrolliert und durchgesetzt wird. So fordert der DGB verstärkte und schärfere Kontrollen durch die zuständigen Behörden, durch die Finanzkontrolle Schwarzarbeit (FKS) und das Bundesamt für Logistik und Mobilität (BALM), um Mindestlohnansprüche über Ländergrenzen hinweg durchzusetzen. „Wir fordern mehr Transparenz in den Lieferketten – und dafür elektronische Frachtpapiere, um die Logistikketten nachzuverfolgen. Die Generalunternehmerhaftung im Mindestlohngesetz ist stark. Solche Durchgriffshaftungen brauchen wir auch für alle Vergehen gegen das Lieferkettengesetz. Auch die Auftraggeber sind in der Verantwortung. Sie müssen für Versäumnisse von Subunternehmen haftbar gemacht werden können.“
Die mutige Aktion der LKW-Fahrer in Gräfenhausen ist zu bewundern. Hoffentlich setzen sie damit ein starkes Signal für den Beginn, die menschenunwürdige Arbeitssituation vieler LKW-Fahrer endlich zu ändern. Als Edwin Altem von der europäischen Transportarbeitergewerkschaft gefragt wurde, was er von dem erfolgreichen Streik in Gräfenhausen mitnehme, antwortete er nur “Who is next?“ Kandidaten unter den europäischen Speditionsunternehmen gibt es genug.