Widerstand und Selbsthilfe in Griechenland

Interview mit Gisela Oertwig zu zwei Griechenlandreisen

Gisela Oertwig arbeitet mit in der Griechenland Solidaritätsgruppe Darmstadt. Sie war dieses Jahr zweimal in Griechenland, um sich dort über die Folgen der Sparpolitik für die Bevölkerung und über den Widerstand dagegen zu informieren. siehsmaso befragte sie zu ihren Eindrücken, die sie auf diesen Reisen gewonnen hatte.

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Siehsmaso:
Du warst 2013 zweimal mit Solidaritätsdelegationen in Griechenland. Welchen Hintergrund hatten diese Delegationen?

Gisela Oertwig:
Die erste Reise war im Juni 2013 mit einer kleinen Delegation der Darmstädter Solidaritätsgruppe. Unsere Gruppe hatte sich im Anschluss an eine Veranstaltung zu den katastrophalen Auswirkungen der Politik der Troika in Griechenland gegründet. Wir haben das Ziel, über die Situation der Bevölkerung zu informieren und eine Diskussion über die tatsächlichen Hintergründe der Schuldenkrise anzustoßen. Damit wollen wir der anti-griechischen  chauvinistischen  Hetze entgegenwirken. Wichtig für uns ist es darüber hinaus, den Widerstand gegen die Spardiktate zu unterstützen und auch praktische Solidarität zu leisten. Unsere erste Aktion war ein Soli-Konzert zugunsten  des  Arbeiter_innen- und Sozialzentrum in Livadia, einer Stadt in Mittelgriechenland. Damit und mit einigen anderen Aktionen haben wir über 5000 Euro Spendengelder gesammelt.

Siehsmaso:
Was ist das für ein Zentrum?

Gisela Oertwig:
Das Zentrum ist der Zusammenschluss der Betriebs- und Basisgewerkschaften einer Region, hat aber angesichts der um sich greifenden Verarmung sein Aufgabenfeld erweitert. Heute gibt es dort  auch einen „sozialen Supermarkt“, eine Kleiderkammer, eine kostenlose Schüler_innenhilfe und die Zusammenarbeit mit medizinischen Fachkräften, um diejenigen zu unterstützen, die keinerlei Einkommen und keine Krankenversicherung mehr haben.
Im Juni waren wir zu dritt in Livadia, um die Spenden an das Zentrum zu übergeben. Außerdem waren wir eingeladen an den Gedenkfeiern in Distomo teilzunehmen. Distomo ist ein Dorf in der Nähe von Livadia, in dem die faschistischen deutschen Besatzer 1944 ein grauenvolles Massaker an den Bewohner_innen verübten. Dabei wurden 218 Menschen auf grausamste Weise ermordet. An diese Opfer wird jährlich im Juni durch die Gedenktage erinnert.
Ein zweites Mal waren wir im September in Griechenland. Wir hatten uns einer Soli-Gruppe angeschlossen mit vierzehn  Teilnehmer_innen aus verschiedenen deutschen und schweizerischen Städten. Diese Gruppe war bereits ein Jahr zuvor in Griechenland und hatte dort viele Kontakte aufgebaut. Über die Gruppe hatten wir auch die Informationen und den Kontakt zum Zentrum in Livadia bekommen. Ziel der zweiten Reise war es, diese Kontakte zu vertiefen und Informationen über die aktuelle Lage zu erhalten.

Siehsmaso:
Was ist dein Eindruck über das Leben der griechischen Bevölkerung angesichts der rigorosen Sparpolitik?

Gisela Oertwig:
Die soziale Lage großer Teile der Bevölkerung ist unerträglich. Die Arbeitslosigkeit ist erschreckend hoch. Sie liegt bei annähernd dreißig Prozent und bei Jugendlichen sogar um die sechzig Prozent. Das kümmerliche Arbeitslosengeld von 180 bis 468 Euro wird nur fünf bis zwölf Monate gezahlt. Danach ist jeder Erwerbslose vollkommen ohne Einkommen und fliegt noch zusätzlich aus der Krankenversicherung. Der staatlich verordnete Mindestlohn liegt bei 490 Euro. Bei Neueinstellungen werden in der Regel individuelle Arbeitsverträge abgeschlossen mit Löhnen von gerade mal 400 Euro. Tarifverträge spielen kaum noch eine Rolle. Eine Million Beschäftigte in der Privatwirtschaft bekommen ihre Gehälter zwei bis fünf Monate verspätet ausgezahlt. Zusätzlich wurden noch viele Steuern erhöht, wobei die Einführung einer Steuer auf selbstgenutzte Wohnungen oder Häuser die Menschen am härtesten trifft: Dabei muss man wissen, dass die meisten Griechen_innen ihre Wohnung oder ihr Häuschen selbst besitzen. Diese Steuer wird mit den Stromkosten eingetrieben, und wer nicht bezahlen kann, dem wird auch noch der Strom abgestellt. Vor zwei Jahren gab es in Griechenland noch 20.000 Menschen ohne Wohnung, heute sollen es allein in Athen 30.000 sein.
Deklassierung und Armut für fast die Hälfte der Bevölkerung sind die Folgen der Spardiktate der Troika. Viele Menschen sehen sich in einer ausweglosen Lage, psychische Erkrankungen und Suizide nehmen drastisch zu.
Ein schockierendes Beispiel für die Not der Menschen konnten wir in Perama erleben, einem Stadtteil von Piräus. Früher lebten 20.000 Menschen von der Arbeit in den Werften. Heute arbeiten hier noch fünfhundert Fachkräfte als Tagelöhner. Die Arbeitslosigkeit liegt bei neunzig Prozent. Wir sahen ganze Straßenzüge mit geschlossenen Geschäften und Cafés. Einige Bewohner berichteten uns, dass die gesamten sozialen Strukturen zusammengebrochen seien. Es fehlt einfach an allem: Nahrungsmittel, Medikamente, Heizmaterial.

 

Siehsmaso:
Welche Formen des Widerstands gibt es gegen die immer weiter gehende Verschlechterung der Lebensverhältnisse?

 

Gisela Oertwig:
Es wurden zahlreiche Selbsthilfeprojekte gegründet. In Perama gibt es seit einem Jahr ein selbstorganisiertes Stadtteilzentrum. 95 Prozent der hier Aktiven sind selbst arbeitslos. Zur Zeit unterstützen sie etwa einhundert Familien mit den lebensnotwendigsten Dingen und schließen Wohnungen wieder „illegal“ an das Strom- und Wassernetz an. Das Zentrum versteht sich nicht nur als soziales Projekt, sondern auch als Teil des politischen Widerstands. Streikmaßnahmen werden aktiv unterstützt und der Kampf gegen den auch in Perama erstarkten Faschismus wird organisiert.
Zu den mittlerweile landesweit vernetzten solidarischen Strukturen gehören auch über einhundert selbstorganisierte Gesundheitszentren und Apotheken, in denen mittellose Patient_innen kostenlos behandelt und mit Medikamenten versorgt werden. Ärzt_innen, medizinisches und nichtmedizinisches Personal arbeiten hier ehrenamtlich. Überall im Land entstehen Sozialküchen für Arbeitslose, Obdachlose und für streikende Arbeiter_innen, da es keine Streikkassen gibt. Außerdem werden Nahrungsmittel gesammelt und an Haushalte verteilt, die anders nicht überleben könnten. Es gibt solidarische Lebensmittelläden, Märkte ohne Zwischenhändler und „Umsonst-Tauschmärkte“. Alle diese Projekte sind im Netzwerk „solidarity4all“ zusammengeschlossen. Das politische Konzept ist es, das Leben selbst in die Hand zu nehmen und alle, die durch die Auswirkungen der aggressiven Sparpolitik getroffen wurden, zusammenzuschließen. Sie wollen nicht den kollabierenden Sozialstatt ersetzen, sondern verlangen langfristig wieder den Zugang zu allen staatlichen Sozialleistungen.
Gegen die immer neuen sozialen Einschnitte gibt es massiven Widerstand der Betroffenen bis hin zu Generalstreiks. Wir haben selbst miterlebt, wie nach der plötzlichen Schließung des staatlichen Fernseh- und Rundfunksenders ERT am 11. Juni das Gebäude von den Mitarbeiter_innen besetzt wurde. Sie sendeten bis zur polizeilichen Räumung am 7.November ein Alternativprogramm in Eigenregie, das im Internet zu sehen war, teilweise aber auch von lokalen Fernsehsendern übernommen wurde.
Wir hatten die Gelegenheit auch als Delegation mit Transparenten und Redebeiträgen an einem Generalstreik im September 2013 teilzunehmen. Er richtete sich gegen den Kahlschlag im Öffentlichen Dienst, besonders im Bildungswesen.
Diese Massenproteste und Streiks konnten bisher die Politik von Regierung und Troika  nicht stoppen. Auch deshalb sind  die Selbsthilfeprojekte notwendig geworden, um das Überleben zu sichern und die Vereinzelung zu überwinden.

Siehsmaso:
Was habt ihr von der faschistischen "Goldene Morgenröte" mitbekommen?

Gisela Oertwig:
Die Goldene Morgenröte "Chrysi Avgi" (ChA) ist eine offen faschistische Partei, die vor der Krise keine große Rolle in Griechenland spielte. Mit ihrer rassistischen Propaganda, Flüchtlinge und Migranten seien Schuld am Elend der Griechen, landeten die Faschisten 2012 zum ersten mal einen Wahlerfolg. Sie zogen mit 18 Parteimitgliedern ins Parlament. Mit den Wahlerfolgen begannen ihre paramilitärischen Schlägertrupps regelrechte Pogrome gegen Flüchtlinge zu organisieren, Ausweiskontrollen durchzuführen oder Migranten von den Märkten zu vertreiben, auf denen sie ihre Ware verkauften. Das alles mit dem Wissen und der Duldung von Polizei, Justiz und Regierung, finanziell unterstützt von reichen Reedern. Die Gallionsfiguren der Partei wurden von den privaten Medien hofiert und konnten in Talkshows ihre faschistische Weltanschauung verbreiten.
Drei Tage vor unserer zweiten Griechenlandreise im September 2013 wurde in Piräus der linke populäre HipHop Musiker Pavlos Fyssas von einem Mitglied der Goldenen Morgenröte auf offener Straße ermordet. Wir besuchten mit unserer Gruppe den Tatort, um unsere Anteilnahme und Solidarität auszudrücken. Viele Menschen hatten dort mit Blumen und Kerzen ihre Trauer bekundet. Das ganze Viertel schien unter Schock zu stehen. Außerdem waren kurz vorher einige Mitglieder der Kommunistischen Partei von den Schlägertrupps der ChA krankenhausreif geschlagen worden. Auf den Schock folgte Wut und Empörung und es gab in Athen die bisher größte antifaschistische Demonstration und Kundgebung, an der auch wir teilgenommen haben. Die staatlichen Institutionen gerieten unter Druck, und einige Tage später wurden deren "Führer" und weitere Abgeordnete der Goldenen Morgenröte verhaftet. Ihnen wird jetzt die Verwicklung in zahlreiche kriminelle Machenschaften vorgeworfen. Die staatliche Finanzierung der Partei ist aufgehoben und ein Verbot der Partei ist im Gespräch. Nach einer kurzen Phase der Schwächung in Folge dieser Ereignissen ist die „Goldene Morgenröte“ aber anscheinend wieder auf dem Vormarsch.
Laut Umfragen ist sie heute die drittstärkste politische Kraft in Griechenland.

Siehsmaso:
Plant ihr in Darmstadt weitere Aktivitäten?

Gisela Oertwig:
Das Thema bleibt auf der Tagesordnung, da die rigorose Sparpolitik die Probleme der Menschen nicht löst, sondern immer weiter verschärft. Die Prognosen über einen baldigen Wirtschaftsaufschwung sind nichts als Propaganda. Was wir in Griechenland gesehen haben, spricht eine ganz andere Sprache. Wir wollen uns deshalb auch weiter mit der Situation in Griechenland beschäftigen. Als nächstes unterstützen wir eine Ausstellung der Gewerkschaftsjugend zu Griechenland und werden am 11.2. bei der Eröffnungsveranstaltung auch von unseren Eindrücken berichten.

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Ausführliche Berichte über die Solidaritätsreise im September 2013 gibt es auf labournet.de.
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Siehsmaso / Gisela Oertwig
02.02.2014
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