Das Geschäft mit der Nachbarschaftshilfe

Vermarktung total durch neue "Sozialunternehmer"

In einigen Vierteln in Darmstadts Norden wurde in den letzten Tagen in die Briefkästen ein Flugblatt verteilt mit der netten Überschrift „Hallo Nachbarn“. Darin wurde aufgerufen, sich an der Nachbarschaftsplattform nebenan.de zu beteiligen und sich mit seiner E-Mail-Adresse registrieren zu lassen. „Wir können uns gegenseitig aushelfen und kennen lernen, die besten Laufpartner und zuverlässigsten Babysitter finden – oder dem Nachbarn einfach mal zwei Eier zum Backen leihen“. Beim ersten Durchlesen klang das alles sehr nett, doch bei dem Blick auf die Adresse des Flugblatts kommen schon die ersten Zweifel auf: Good Hood GmbH in Berlin. Eine Recherche im Internet bringt dann Erstaunliches zu Tage.

Start-up-Firmen mit Millionenkapital

Die Good Hood GmbH ist ein Start-up-Unternehmen mit Sitz in Berlin. Gegründet wurde dieses Unternehmen von Christian Vollmann, der in der start-up-Szene als Seriengründer bekannt ist. Als selbsternannter  Social bzw. Serial Entrepreneur (soll heißen Sozial-Unternehmer und Seriengründer) gründete er iLove, Myvideo und Edarling - Singlebörsen und Videoplattformen- und eben auch nebenan.de. Das Geschäftsmodell von nebenan.de ist sehr ambitioniert. Mit nebenan.de möchte der Social Entrepreneur ganz Deutschland in Zehntausende Nachbarschaften zerlegen und dort die auf diese Gebiete jeweils speziell zugeschnittenen sozialen Netzwerke installieren. Offiziell ging nebenan.de im Dezember 2015 an den Start, begann in Berlin  und dann auch in den Großstädten Köln und Hamburg. Nach eigenen Angaben ist die Plattform in über 30 Städten mit 900 Nachbarschaften aktiv. Die Nachbarschaftsplattform hat in der Gründerszene bekannte Namen als Investoren gewonnen, z. B. Lakestar und auch die Mediengruppe Burda, die vorher schon große Summen in das Karrierenetzwerk Xing investiert hatte. Insgesamt hat Vollmann bei den Investoren bisher 5,5 Millionen € eingesammelt. Damit werden zur Zeit 12 Mitarbeiter beschäftigt, um den bundesweiten Aufbau voranzutreiben.

Die Investoren hoffen auf einen riesigen Wachstumsmarkt. In den USA wurde die dortige Nachbarschaftsplattform  nextdoor  mit 210 Mio. Dollar finanziert und soll für Investoren bereits einen Wert von 1 Mrd. Dollar haben. Das Geld, das jetzt erst mal vorgestreckt wird, soll nachher in Form von Werbeeinnahmen um ein vielfaches zurückfließen. In Konkurrenz oder in "nachbarschaftlicher Ergänzung" zu Facebook bieten sie lokalen Unternehmen sorgfältig nach Wohngebiet sortierte Daten der Nutzer an. Lokale Geschäfte, Friseure, Apotheken, Optiker, Babyläden, Restaurants, Bioläden und Discounter können spezielle abgestimmte Werbung platzieren und gezielt das gewünschte Klientel ansprechen. Die angestrebten Werbeeinnahmen sollen das von den Investoren vorgestreckte Geld wieder zurück in ihre Kassen spülen.

So kann man mit der Vermittlung von „Nachbarschaftshilfe“ Geld machen. Der Investor Burda "denkt langfristig und glaubt an die Nachhaltigkeit sowie die positive, soziale Wirkung des Konzepts". Es ist schon ärgerlich, dass der gute Grundgedanke der  Nachbarschaftshilfe mit seiner positiven Besetzung benutzt wird, um nun auch die nachbarschaftlichen Beziehungen zu kommerzialisieren. Das Geschäftsmodell hat nur einen großen Haken: es rechnet sich erst, wenn die Anzeigeneinnahmen fließen und wenn vorher eine sehr große Zahl von Teilnehmern das Nachbarschaftsportal benutzt.

Der Markt für die Nachbarschaftsplattformen ist in Deutschland  noch stark umkämpft. Andere Netzwerke wie WirNachbarn, Nachbarschaft.net oder Lokalportal stehen untereinander in Konkurrenz um die meisten Nutzer, aber noch keine Plattform konnte sich bisher entscheidend durchsetzen.

In Arheilgen Südost und im Komponistenviertel wurden zwei fast gleiche Flugblätter an die "Lieben Nachbarn" verteilt. Sie endeten mit "Wir freuen uns auf euch! Till Behnke und Ina Brunk von nebenan.de". Mann und Frau könnten wieder meinen, liebe Nachbarn freuen sich auf ihre neuen lieben Nachbarn. Aber wieder weit gefehlt. Wie der Gründer Christian Vollmann sind Till Behnke und Ina Brunk Mitgesellschafter der Good Hood Beteiligungsgesellschaft GbR (Gesellschaft des bürgerlichen Rechts). Sie freuen sich von Berlin aus über jede neue Anmeldung eines "lieben Nachbarn" von Darmstadt über Köln nach Hamburg.

Die neuen Sozialunternehmer

Die Geschäftsmodelle der neuen Sozialunternehmer beschränken sich nicht nur auf die Nachbarschaftsplattformen. Der erwähnte Till Behnke ist auch Mitbegünder der Spendenplattform Betterplace. Betterplace wirbt damit, dass es die konkreten Bedarfe der Spendenorganisationen darstellt und der Spender genau informiert wird über die Verwendung der Gelder und die Entwicklung des Projekts. Einnahmen erzielt Betterplace durch Spenden z. B. von SAP und Vodafone und durch eine hundertprozentige Tochtergesellschaft, die betterplace-solutions GmbH. Diese berät Firmen, wie sie sich in der Öffentlichkeit optimal als gesellschaftsverantwortliche Unternehmen darstellen können. Natürlich kommt der Verdacht auf, dass gerade die Firmen diese Beratungsdienstes in Anspruch nehmen, die sonst sehr findig im Steuersparen sind. Eine wirkliche nachhaltige Entwicklung müsste an der Steuergerechtigkeit ansetzen und dass gerade Großfirmen einen angemessenen Steuersatz bezahlen.

Auch so unschuldig daher kommende Initiativen wie die "essbare Stadt", die vor einigen Wochen in Darmstadt mit essbaren Geranien für ein grüneres Darmstadt warb, gehören zu dem Netzwerk der Sozialunternehmen. "Sozialunternehmen setzen sich dafür ein, gesellschaftliche Probleme zu lösen", hieß es auf einer bei der Aktion verteilten Postkarte, obwohl man von Geranienblüten allein nicht satt wird. Gleichzeitig wurde für "Ashoka" geworben, der "Heimat der Changemaker". Akteure in diesem Ashoka-Netzwerk sind wieder die uns bekannten Gründer von nebenan.de und betterplace. Der letzte von Ashoka-Deutschland veröffentlichten Jahresbericht endet mit dem Dank an die Geldgeber und investierenden Partner: McKinsey, BMW-Stiftung, Boehringer Ingelheim, SAP, Telefonica, Generali, Siemens-Stiftung, Haniel... Dabei an die Heimat der wirklichen "Changemaker" zu glauben, fällt schwer.

Erhard Schleitzer
28.09.2016
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