Darmstadt-Lesebuch "Zoff am Langen Lui"

Nachwort der Herausgeber

Nach "Ade, Luisenplatz!" (1979) ist dies unser zweites Darmstadt-Lesebuch. Seitdem hat sich einiges geändert. Der Einbruch des Neoliberalismus als besonders aggressive Form des Kapitalismus in unsere Gesellschaft hat zu einem in der Geschichte der BRD bisher beispiellosen Abbau sozialer und demokratischer Strukturen geführt, der auch an unserer Stadt nicht spurlos vorbeigegangen ist. Die mit Arbeitslosigkeit Bestraften, besonders die Hartz-IV-Empfänger, denen wesentliche Menschenrechte storniert werden, wissen ein Lied davon zu singen. Verschärft hat sich die Situation in den Betrieben, die wachsende Zahl der Arbeitskämpfe kündet davon. Die Neonazis, geduldet vom Staat, verüben immer mehr Straftaten in der Region und in Darmstadt, stoßen aber auf kräftigen Widerstand. Neu ist der mit sportlichen Großereignissen gefütterte, fröhliche Party-Nationalismus, brauchbar als Einstiegsdroge für anderes. Unter dem Vorwand der Terrorbekämpfung und mit geschürter Hysterie wird der Rechtsstaat ausgehöhlt, der Überwachungsstaat aufgebaut. Zugespitzt hat sich die Diskussion um das schrottreife AKW Biblis, dessen Laufzeit mit Tricks verlängert werden soll. Geblieben ist auch der kommunalpolitische Dauerbrenner Straßenbau. Die Befindlichkeiten des Individuums im Alltag, Liebe und Tod sind immer ein Thema.

All diese Dinge spiegeln sich in unserem Lesebuch wider, in ernsten und heiteren Texten. Dabei zeigen wir nicht nur die Missstände auf, sondern präsentieren auch die Gegenwehr der Betroffenen; ihnen gilt unsere Solidarität. Um die ganze Breite der außerparlamentarischen Protestaktionen abzudecken, haben wir unseren Literaturbegriff erweitert und Prosaformen wie Tonprotokoll, Essay, Flugblatt und politische Rede aufgenommen. Zentraler Bestandteil unseres Buchs ist die Dokumentation des "Rentner-Danktags", eine Form des politischen Straßentheaters, wie sie für die Geschichte der kulturellen Protestaktionen in Darmstadt bisher einmalig ist.

Wir leben in der Region Darmstadt. Heimat - das ist für uns nichts Sentimentales, keine Selbstbeweihräucherung, bei der das Denken einschläft und das Spießertum erwacht, nicht Fremdbestimmung, Gängelung und Unterdrückung, sondern Selbstverwirklichung, Herstellung des ganzen Menschen in einer von ihm selbst gestalteten und bestimmten Umwelt. Dazu möchte unser Buch beitragen.