Von der Boom- zur Schrumpfstadt?

Die von der “Wissenschaftsstadt“ Darmstadt erstellten Bevölkerungsprognosen sind wenig seriös

184.000 Einwohner im Jahr 2035. Diese Bevölkerungszahl wird als Grundlage genommen für die vorgeschlagenen Maßnahmen im Masterplan für Darmstadt 2030+ . Der jährliche Wanderungsgewinn soll bis 2035 kontinuierlich 1.100 Per­sonen betragen. Der Masterplan nennt als Datengrundlage den Demografiebericht des Amtes für Wirtschaft und Stadtentwicklung von 2017. Ein genauer Blick in den Demografiebericht aber zeigt, dass der angeführte Bericht nur bruchstückhaft wiedergegeben wird und seine Ergebnisse - bewusst? - irreführend dargestellt werden.

Was wirklich im Demografiebericht für Darmstadt von 2017 steht

Für die Bevölkerungsentwicklung Darmstadts werden in dem Bericht 5 Szenarien entwickelt (siehe PDF-Datei unten). Davon werden 3 Szenarien von dem Darmstädter Amt für Wirtschaft und Stadtentwicklung erarbeitet. Sie gehen jeweils von einem Wanderungsgewinn von 300, 800 und 1.100 Personen aus. Je nach Höhe des Wanderungsgewinns ergibt sich ein Bevölkerungswachs­tum für das Jahr 2035 auf 171.007, 177.550 und 184.093 Personen.

Voila: hier ist die Zahl von 184.000 Einwohner*innen für das Jahr 2035, die Planungsgrundlage für den Masterplan 2030+. Voraussetzung ist ein jährlicher Wanderungsgewinn von 1.100 Menschen.  Unterschlagen wird, dass im Demografie­bericht „die Variante 2 ... für die weitere Entwicklung Darmstadts bis 2035 die wahrscheinlichsten Ergebnisse (ergibt)". Variante 2 geht von einem Wanderungsgewinn von 800 Menschen aus.

Die anderen Szenarien 4 und 5 gehen von einem noch geringeren Wachstum aus. Szenario 4 ist entwickelt vom Hessischen Statistischen Landesamt und schätzt für das Jahr 2030 eine Bevölkerungszahl von 175.424. Im Szenario 5 errechnet die Hessenagentur für 2030 168.700 und erst für das Jahr 2050 180.300 Personen.

Neben den oben aufgeführten 5 Szenarien hat auch die Bertelsmann-Stiftung demografische Daten für Darmstadt ermittelt, allerdings basierend auf Werten vom Jahr 2012. Sie errechnete für 2020 eine Bevölkerungszahl von 158.130 Personen für Darmstadt, wobei der Zuzug durch geflüchtete Menschen nicht berücksichtigt wurde bzw. werden konnte. Die Varianten bzw. Prognosen mit geringerem Bevölkerungswachstum werden im Masterplan 2030+ nicht berücksichtigt. Ein Schelm, wer böses dabei denkt.

Die Bevölkerungsentwicklung Darmstadts über lange Zeiträume

Aufschlussreich ist die Betrachtung der Entwicklung der Bevölkerung Darmstadts über längere Zeiträume (Datenreport der Wissenschaftsstadt Darmstadt 2020). Die Einwohnerentwicklung für die Jahre:

1990 – 2000: 137.128 - 136.238, Verlust: - 890= - 89 pro Jahr

2000 – 2010: 136.238 – 143.276, Anstieg: 7.038 = + 704 pro Jahr

2010 – 2015: 143.276 – 157.390, Anstieg: 14.114 = + 2823 pro Jahr

2016 – 2019: 159.982 – 162.428, Anstieg: 2.446 = + 815 pro Jahr

Untypische Jahre in der Langzeitentwicklung sind die Jahre 2011, 2015 und 2016 mit einem Bevölke­rungszuwachs von 4.345, 3.388 und 2.592. In den Jahren 2015 und 2016 nahm bekanntlich der Zuzug geflüch­teter Menschen nach Darmstadt stark zu. Im Jahr 2011 wurde die Zweitwohnsitzsteuer eingeführt, die wohl viele Studierende veranlasst hat, ihren Erstwohnsitz in Darmstadt anzumelden. Dies ist wohl nicht als realer Bevölkerungsanstieg zu werten.

 Ab 2017 flachte der Bevölkerungsanstieg wieder ab und betrug 2019 lediglich 585 Personen.

2020 und 2021 – Darmstadt schrumpft

Laut der statistischen Kurzberichte der Stadt Darmstadt sank im Jahr 2020 die Einwohnerzahl der Stadt Darmstadt um 808 Personen auf 161.620. Auch 2021 setzte sich dieser Trend fort und die Ein­wohnerzahl sank bis zum 3. Quartal um weitere 640 Menschen. „Maßgeblich hierfür ist der starke Wegzug der deutschen Bevölkerung und der geringere Zuzug von Ausländern“. Der Bevölkerungs­rückgang betrifft fast alle Stadtteile und fällt besonders hoch im Norden Darmstadts und in der Mit­te aus. Leichte Bevölkerungsgewinne gab es lediglich in Bessungen und Darmstadt-West, aber nur wegen der Neubauprojekte in der Lincoln-Siedlung und im Verlegerviertel.

Den jährlichen Wanderungsgewinn mit 1.100 Menschen weiterhin als zukünftige Planungsgrundlage zu nehmen, ist nicht seriös und scheint "interessengeleitet" zu sein.

Die Corona-Pandemie sorgt für neue Arbeitsformen

Die Corona-Pandemie hat dazu geführt, dass viele Beschäftigte, die vorher in Büroräumen gearbei­tet haben, zu Hause im Home-Office arbeiten. Hieraus haben sich hybride Arbeitsweisen entwi­ckelt, das heißt eine Mischform von Arbeit im Büro und Home-Office. In einer Reihe von Firmen gibt es bereits Regelungen, an wie vielen Tagen die Beschäftigte im Home-Office arbeiten und wie die weitere Arbeit in Präsenz im Büro und in den Teams organisiert wird. Auf jeden Fall steht hier in der nächsten Zeit ein Umbruch in der Arbeitsorganisation bevor und die Zahl der vorgehaltenen Arbeitsplätze im Büro wird sinken und damit die erforderlichen Büroflächen. Einige Firmen, wie hier in Darmstadt die Telekom, nutzen diese Entwicklung für Einsparungen und planen die Entmie­tung von großen Bürohäusern. Und natürlich wächst bei den Beschäftigten der Trend, wegen der teuren Mieten aus den Großstädten wegzuziehen und der wenigen Bürotage in der Woche eine Wohnung im Umland, auch mit einem längeren Anfahrtsweg zu suchen. Deshalb ist absehbar, dass viele Bürogebäude in Darmstadt, wie in anderen Städten, in der nächsten Zeit leer stehen werden.

Der Ausbau von Gewerbeflächen soll forciert werden

Im Masterplan 2030+ sind insgesamt 230 Hektar als möglich zu entwickelnde Gewerbeflächen fest­gelegt. Die Ackerflächen in Arheilgen West (130 ha) und Wixhausen Ost. (100 ha) sind in einer be­schlossenen Magistratsvorlage vom 18.11.2020 für „die Durchführung von vorbereitenden Untersu­chungen für eine städtebauliche Entwicklungsmaßnahme vorgesehen.“ In Arheilgen und Wixhausen gibt es heftigen Widerstand gegen diese Pläne, zahlreiche Infostände der IGAB (Interessensgemein­schaft Arheilger Bürger), Aktionen vor der Stadtverordnetenversammlung (siehe Bild oben), Begehun­gen vor Ort mit hoher Beteiligung und eine Petition mit über 6000 Unterstützer*innen an die Stadt­verordnetenversammlung, in der die Bedeutung von von landwirtschaftlichen Nutzflächen für den Klimaschutz, die regionale Versorgung an Lebensmitteln und für die Naherholung hingewiesen wird.

In der Stadtverordnetenversammlung am 15.7.2021 stellte die Fraktion von Uffbasse den Antrag, die Planungen und Analysen zur Erschließung dieser Flächen einzustellen. Sie schlug stattdessen vor, in einer stadtweiten Untersuchung die Entwicklungsflächen für Gewerbe in bereits erschlosse­nen, versiegelten Flächen zu benennen. „Vorrangig sollen sich diese Untersuchungen insbesondere auf das Kuhnwaldtgeländes nördlich der Starkenburg-Kaserne und auf das Areal der Starkenburg-Kaserne sowie das Goebel-Gelände konzentrieren.“ Weiterhin sei zu prüfen, ob im Rahmen des verstärkten mobilen Arbeitens und Arbeiten von zu Hause aus größere Bürokomplexe (teilweise) frei geworden sind, die in Gewerbeflächen umgewandelt werden könnten. Auch die Linke brachte einen Antrag ein,"die vorgelegte Analyse aufgrund der Mängel und Einseitigkeiten nicht ohne Weiteres als Grundlage weiterer Planungen für die städtebaulichem Entwicklungsmaßnahmen Arheilgen West und Wixhausen Ost (zu) verwenden." (s. Antrag in der Anlage)

Die Re­gierungskoalition von Grünen/CDU/Volt schmetterte jedoch beide Anträge  ab. Die Stadt folgt weiter einer von ihr in Auftrag gege­benen Gewerbeflächenbedarfsanalyse, die die Zielformulierungen aus dem Masterplan 2030+ un­kritisch fortschreibt. Unter der Überschrift „Gewerbeflächenbedarf – geliefert wir bestellt“ kritisierte die IGAB das Gutachten, und warf der Stadt vor, dass sie „einen strikten Wachstumskurs mit offensiver Firmenansiedlung betreibt, der jeglichem Nachhaltigkeitsgedanken spottet“. Davon unbeeindruckt nahm der Magistrats am 01.09.2021 die Vorlage des Gutachtens der von ihr bestellten Firma „zur Kenntnis“.

„Traue keiner Statistik, die du nicht selbst gefälscht hast“. Dies ist wohl die beste Beschreibung des Vorgehens der Stadt bei die Durchsetzung der Ziele das Masterplans 2030+. Aber warum das alles? „Wie bleibt die Stadt ein attraktives Ziel für Unternehmen und kluge Köpfe?“, heißt es in der Einführung zum Masterplan. Wollen die politisch Verantwortlichen der Stadt Darmstadt sich sonnen mit den Bezeichnungen: Boomstadt, Wissenschaftsstadt, Digitalstadt – und wen und was haben sie dabei vergessen?

 

Quellen:

Bevölkerungsentwicklung seit 1939: www.darmstadt.de/fileadmin/Bilder-Rubriken/Standort/Statistik_und_Stadtf...

IGAB zum Gutachten Gewerbeflächenbedarf: www.https://igabweb.de/gewerbeflaechenbedarf-geliefert-wie-bestellt/?fbclid=...

 

Zum Nachlesen:

Masterplan DA 2030+ Wachstum, Wachstum! Wachstum?, www.politnetz-darmstadt.de/node/28420

Boomstadt Darmstadt? Städte und Regionen driften auseinander, www.politnetz-darmstadt.de/node/28292

 

 

 

Erhard Schleitzer
02.12.2021